Zusammen mit seiner Frau übernahm Rodrigez damals das kleine Café in der aufstrebenden Grenzstadt. Es wurde zu einem beliebten Treffpunkt seiner ehemaligen Kollegen. Nach ihrer Schicht gönnten sie sich bei Manuel eine kühle Cerveza oder sie feierten eine Beförderung. Doch auch diese Zeit ging nach einigen Jahren zu Ende, starb mit der Pensionierung der alten Mitstreiter von Manuel langsam aus.
Henry Huxley wusste, dass bei Rodrigez keine Umwege notwendig waren, er sofort auf den Punkt kommen konnte.
»Ich suche nach Beweisen für Verbindungen von US-Behörden zu den mexikanischen Drogenkartellen. Mein Auftraggeber interessiert sich vor allem um Machenschaften von FBI und CIA, aber auch von anderen Regierungsstellen. Es geht ihm um Bestechungsgelder, mit denen die US-Behörden geschmiert werden, damit sie beim Drogen- und Waffenschmuggel wegschauen. Und er will anschließend den Weg dieser Gelder verfolgen können und so herausfinden, welche illegalen Operationen damit später finanziert werden. Ich bin nach Juárez gekommen, weil ich hoffte, du kannst mir weiterhelfen. Hast du einen Tipp für mich, wo ich ansetzen soll?«
Manuel schob nachdenklich seinen Kopf hin und her, dachte nach und wägte ab.
»Du begibst dich auf äußerst dünnes Eis, mein alter Freund. Doch das weißt du bestimmt schon«, schickte er seiner Erklärung voraus. Henry nickte ernst, meinte jedoch: »Schildere mir doch bitte erst einmal die Verhältnisse hier in der Region. Wer hat was zu sagen und wo könnte ich mit meinen Ermittlungen ansetzen?«
Manuel dachte einen Moment lang nach, sammelte sein Wissen. Dann begann er zu erzählen.
»Vor zwanzig Jahren war die Welt hier im Norden Mexikos noch in Ordnung. Schon damals wurden zwar große Mengen an Drogen über die Grenze in die USA geschmuggelt, doch das Geschäft lief im Verborgenen ab und Gewalt gab es eher selten. Doch vor zehn Jahren hat sich dies drastisch geändert. Man begann, die Drogen im großen Stil auch an die mexikanische Jugend zu verkaufen. Rasch bildeten sich Banden, die Straßen und ganze Viertel beherrschten. Sie übernahmen für die Bosse der Kartelle die Drecksarbeit. Im Gegenzug bekamen sie Drogen, Geld und Waffen. Bald einmal begannen sie sich gegenseitig zu bekriegen. Doch die Gewaltbereitschaft steigerte sich von Jahr zu Jahr noch. Unser Staatspräsident musste sogar Armeeeinheiten in die Grenzregion entsenden, wollte auf diese Weise den unzähligen Morden endlich Einhalt gebieten.«
»Und welche Drogenkartelle sind hier in der Stadt besonders aktiv? Geben einzelne den Ton an oder sind sie alle etwa gleich stark?«
»Das Juárez Kartell war lange Jahre unangefochten die Nummer eins in Juárez. Doch Vicente Carrillo Fuentes, ihr oberster Boss, hat in letzter Zeit stark an Einfluss verloren. Vor allem das Sinaloa-Kartell von Joaquim Guzman Loera macht ihm das Leben schwer. Der operiert zwar mehrheitlich weiter westlich, an der Grenze zu Kalifornien, drängt nun jedoch immer weiter auch nach Osten und in Richtung Golf vor. Doch auch das Zetas-Kartell und das Tijuana-Kartell mischen hier kräftig mit. Und La Familia aus dem tiefen Süden, das Golf-Kartell und die Beltrán-Leyva Organisation versuchen, ihren Machtbereich immer weiter nach Norden auszudehnen. Letztendlich gibt sich hier in Juárez die Drogenprominenz von ganz Mexiko ein blutiges Stelldichein und jeden Tag zählt die Stadt ein halbes Dutzend Morde.«
»Und die Polizei ist den Kartellen nicht gewachsen?«
Manuel lächelte bitter.
»Letzten Dezember hat eine Armeeeinheit Arturo Beltrán Leyva nahe Mexiko City aufgespürt und erschossen. Arturo war der Boss der Bosse des Beltrán-Leyva Kartells. Bei der wilden Schießerei kam aber auch ein junger Soldat ums Leben. Diesem gab die Regierung eine Woche später ein Staatsbegräbnis. Dadurch wurde sein Name landesweit bekannt. Nur Zwei Tage später drangen Bewaffnete in das Haus der Mutter dieses Soldaten ein, töteten sie selbst, zwei seiner Geschwister und eine zufällig anwesende Tante. Jedes Jahr werden hier im Norden von Mexiko mehrere tausend Menschen getötet, darunter ein Dutzend Journalisten. Mittlerweile wird in den Zeitungen und am Radio und im Fernsehen über die Erfolge der Polizei und der Armee gegen die Drogenkriminalität oft gar nicht mehr berichtet, aus lauter Angst, sich den Zorn eines der Kartelle zuzuziehen. Teile der Polizei und der Armee werden von den Kartellen geschmiert und verraten ihre loyalen Kollegen. Erst kürzlich musste der Polizeichef von Juárez seinen Posten wegen Bestechlichkeit räumen. Zwei Wochen später hat man ihn an der Grenze zur USA mit einer Lieferung Drogen erwischt. Ehemalige Drogenfahnder der mexikanischen Polizei haben sich vor Jahren dem Golf-Kartell angeschlossen. In der Zwischenzeit hat sich dieses einst mächtigste Syndikat von ganz Mexiko in das Zetas und das Beltrán-Leyva Kartell aufgeteilt. Die Zetas treten dabei besonders brutal in Erscheinung, kennen auch keinerlei Skrupel gegen völlig unbeteiligte Menschen. Sie töten, was ihnen in die Quere kommt, ohne jedes Gewissen.«
»Und wie sind die Kartelle hier in Juárez organisiert? Du sprachst von Jugendbanden?«
»Für das Juárez-Kartell streiten sich immer noch die Los Aztecas. Sie sollen über fünftausend Mitglieder zählen. Die anderen Kartelle bedienen sich wahlweise der Mexides und der Artistas Asesinos, zwei weitere große Gruppierungen und erbitterte Feinde der Los Aztecas. Aber es gibt auch noch andere, kleinere Banden. Du findest hier in Juárez an jeder Ecke Kontakt zu einem Sicario, einem Auftragsmörder. Wenn dein Opfer nicht besonders prominent und darum auch nicht von Leibwächtern beschützt wird und seine Ermordung kaum Aufsehen erregt, so kostet dich ein Mord nicht mehr als siebzig US-Dollar.«
Henry konnte über diese Aussagen nur den Kopf schütteln.
»Kennst du die Menge oder den Wert an Drogen, die von Mexiko aus in die USA geschafft werden? Von welchen Größenordnungen sprechen wir bei diesem Geschäft?«
»Janet Napolitano, die US-Heimatschutzministerin, meinte vor noch nicht langer Zeit in einem Interview, dass neunzig Prozent des Kokains aus Mittelamerika über Mexiko in die USA geschleust wird. Hinzu kommen tausende von Tonnen an Amphetaminen. Marihuana spielt mittlerweile eher eine Nebenrolle, auch wenn die Mengen gigantisch sind. Wie man sich erzählt, erreichten die Drogenlieferungen aus Mexiko in die USA letztes Jahr einen Wert von mehr als dreißig Milliarden Dollar. Der Straßenwert dürfte bei über einhundert Milliarden liegen. Nur etwa ein Drittel der dreißig Milliarden sollen als Bargeld zurück nach Mexiko geflossen sein, zwei Drittel jedoch in Form von Waffen und Kriegsmaterial. Denn damit bezahlen die mexikanischen Kartelle ihre Lieferanten aus Mittelamerika. Der Anbau von Kokain liegt dort meistens in den Händen von Terror-Organisationen wie zum Beispiel den FARC in Kolumbien.«
Henry dachte über die Erklärungen von Manuel gründlich nach. Sein Freund ließ ihm die Zeit, saß stumm am Tisch und wartete ab.
»Du sagst, das Juárez-Kartell habe in letzter Zeit an Einfluss verloren, das Sinaloa-Kartell dagegen gewonnen?«
Manuel nickte.
»Doch die Los Aztecas, die größte lokale Jugendbande, unterstützt immer noch das Juárez-Kartell?«
Wiederum nickte der Mexikaner.
»Kannst du für mich herausfinden, wo das Juárez-Kartell sein Hauptquartier hat? Ich meine, wo es seine Buchhaltung führt?«
Manuel starrte seinen britischen Freund nachdenklich an.
»Willst du den Toro gleich bei den Hörnern packen? Vicente Carrillo Fuentes, der Boss des Juárez Kartells, ist zwar angeschlagen, doch noch längst nicht am Ende.«
Henry antwortete nicht, blickte seinen Freund bloß aufmunternd an. Der fuhr nach ein paar Sekunden in einem nachdenklicheren Tonfall fort.
»Ich müsste mich erst bei ein paar von meinen alten Bekannten umhören. Gibst du mir zwei, drei Tage Zeit dafür, ja?«
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