Ein Kristall!
Halb in das Fleisch gebrannt, halb herausstehend konnte er deutlich den ovalen, tiefrot leuchtenden, leicht pulsierenden Stein, von der Größe einer Kinderfaust in der Brust des Fremden erkennen.
„Aber...?“ Fernando starrte Carlos entsetzt an, war tief geschockt über das, was er gesehen hatte. Wie konnte der Kristall aktiviert sein? Das war doch unmöglich!
Im gleichen Moment erkannte er die Wahrheit selbst, als er sah, dass der Stein in der Brust seines Widersachers keine schützende Hülle mehr besaß.
„Oh Herr Jesus, nein!“ entfuhr es ihm noch, da glaubte er nur einen Sekundenbruchteil später, er würde vollends den Verstand verlieren. Denn vor seinen Augen verwandelte sich Carlos Gesicht, seine Konturen begannen zu verschwimmen, so als schaue man auf eine Wasseroberfläche, die durch den Einschlag eines Steines Wellen schlug.
Eine Sekunde später schaute Fernando in ein ganz anderes Gesicht.
Ein Gesicht, das er kannte. Das Gesicht eines Freundes, der so wie er vor Jahrhunderten einen Fehler begangen hatte, den sie mit dem Fluch der Unsterblichkeit bezahlen mussten. Und der, so wie sie alle, die davon betroffen waren, all die lange Zeit niemals die Hoffnung aufgegeben hatte, dass sie ihre Herzen und damit ihre Sterblichkeit wieder zurück erlangen konnten. Bis sich ihre Hoffnungen vor über 26 Jahren zu manifestieren schienen und doch nur wenige Augenblicke später durch den Absturz des Flugzeuges, in dem sie waren, wieder in Rauch auflösten.
Jener furchtbare Vorfall, der ihre Hoffnungen erneut zerstörte und bei dem einer von ihnen so schwer verletzt wurde, dass sie ihn nicht vor dem heranstürmenden Militär retten konnten.
Und von dem seit jener schrecklichen Nacht jede Spur fehlte ... bis heute.
„Ist es so besser?“ fragte ihn das Gesicht und lächelte.
Doch Fernando reagierte nicht.
„Erinnere dich!“ Das Gesicht verlor sein Lächeln. „Oder ist es zu lange her?“ Er musterte Fernando eine Sekunde scharf.
Aber Fernando hatte ihn doch bereits erkannt, versuchte nur seine explodierenden Gedanken in den Griff zu bekommen. „Oh mein Gott! Carlos!“
„Siehst du, wer ich bin? Siehst du es?“ Carlos schrie seine Worte direkt in Fernandos Gesicht.
Doch der Rechtsanwalt war zu keiner Reaktion mehr fähig. Er hatte die wahre Identität seines Henkers entdeckt und, obwohl so viele Fragen offen waren, sah er nur die eine Tatsache.... „Du hast Kontakt mit dem Kristall!“,...die viel schrecklicher war, als alles, was er sich jemals hätte vorstellen können.
Und er erinnerte sich sofort an Philippes Worte und wusste, dass der Pater recht hatte.
Das Böse war nicht mehr aufzuhalten.
Fernando war so geschockt, dass er nicht einmal reagierte, als Carlos seine rechte Hand auf seinen Brustkorb legte. „Und nun gib mir, was ich brauche - und dann stirb!“
Jetzt kam Fernando zurück in die Wirklichkeit. „Ja, nimm es dir, du Teufel. Aber es wird dir am Ende nichts nützen. Die anderen werden dich aufhalten. Du wirst dein Werk niemals vollenden können!“
„Das glaubst du. So wie die anderen vor dir. Wann begreift ihr es endlich? Ich habe direkten Kontakt zum Kristall. Und ihr habt ja keine Ahnung, welch unglaubliche Macht ich gesehen habe. Ihr könnt mich nicht aufhalten. Keiner von euch!“ Er starrte Fernando mit großen Augen direkt ins Gesicht, erhöhte den Druck auf seine Brust, spürte die Energie, die zu fließen begann.
Fernando schrie auf, versuchte sich zu wehren, hatte jedoch keine Chance.
Eine Minute später war alles vorbei und auch die Energie aus Fernandos Kristall war zu Carlos übergegangen.
Fernando sackte kraftlos zusammen, Carlos musste kurz durchatmen.
„Das war´s!“ sagte er dann zu Eric, als er sich wieder gefangen hatte.
Bevor er sich umdrehte, beugte er sich noch einmal zu Fernando herunter. „Sie mich an...!“ sagte er.
Fernando schaute ihn kraftlos an, sah das Carlos sich wieder in die erste Gestalt zurückverwandelt hatte.
„...und merke dir mein Gesicht! Es ist das Gesicht eures neuen Gottes!“
Er war am Ende seiner Kräfte, aber er war total verwirrt.
Statt zu sterben, durfte er hier liegenbleiben, sehen, wie Carlos und der Schwede die Kirche zügig verließen.
„Bleibt, wo ihr seid!“ hörte er Carlos noch rufen, während er sich einmal um seine eigene Achse drehte. „Dann wird euch nichts geschehen!“
Dann schloss sich das Tor und sie waren entschwunden.
Und er noch am Leben.
Ohne Kristall und ohne Herz. Er hatte immer geglaubt, dass dies nicht möglich war.
Doch er spürte deutlich in sich, wie seine Kräfte schnell nachließen.
Er hatte nur noch wenig Zeit, dann würde er tatsächlich sterben.
Aber vielleicht hatte er noch die Zeit, sein Wissen an seine Freunde weiterzugeben.
Vielleicht hatte Carlos diesmal einen Fehler gemacht und Fernando wollte alles tun, um diese einmalige Chance zu nutzen.
Als sie vor die Kirche traten, gab Eric dem Piloten des Transporthubschraubers das Zeichen, die Maschine anzuwerfen.
Der Pilot gab den Befehl an seine beiden Kollegen in den Kampfhubschraubern weiter.
„Ist alles erledigt?“ fragte Carlos Eric, während sie zum Transporthubschrauber gingen.
Eric nickte.
„Dann lass uns abrücken. Und denke daran, der erste Schuss gehört mir!“
Wieder nickte Eric und gab die Befehle an seine Leute weiter.
Carlos erreichte den Hubschrauber, als ein junger Mann in Uniform zu ihm trat.
„Sir?“
„Was gibt es?“
„Sir, es liegen erste Suchergebnisse vor! Wenn sie es sich anschauen wollen!?“ Der junge Mann gab ihm einen DIN-A-4-Umschlag.
Carlos nahm ihn und holte den Inhalt heraus.
Es waren mehrere großformatige Fotos, die von dem Privatdetektiv gemacht worden waren, den er vor geraumer Zeit engagiert hatte.
Unbemerkte, heimliche Fotos, damit die Zielperson keinen Verdacht schöpfte.
Die Fotos zeigten allesamt eine junge, farbige Frau, Anfang zwanzig. Sie war hübsch, attraktiv, hatte ein gewinnendes Lächeln und auffallend leuchtende grüne Augen.
Die Fotos zeigten sie beim Einkaufen, beim Bummeln, bei der Arbeit.
„Wo?“ fragte Carlos und schaute den Mann neben ihm an.
„Auf der Rückseite, Sir!“
Carlos drehte das Bild um, das die junge Frau bei der Arbeit zeigte.
Auf der Rückseite stand: 17.07.2013. Den Ort erfahren sie, wenn sie mich bezahlt haben!
Carlos atmete einmal tief durch.
„Vereinbaren sie sofort einen Termin mit diesem Privatdetektiv. Wie heißt er noch gleich?“
„Forrester, Sir. Samuel Forrester!“
Carlos nickte. „Ich will ihn sprechen, sobald wir zurück sind!“
Der junge Mann nickte zustimmend.
„Noch etwas?“
„Unsere New-Yorker Einheit hat Walker ausfindig gemacht!“
Carlos schaute den Mann ausdruckslos an und überlegte einen Moment. „Sie sollen ihn holen. Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern. Diese Sache hier...!“ Er hob die Fotos an. „...ist einfach zu wichtig!“
„Jawohl, Sir. Ich werde sie anweisen, Walker in unser Hauptquartier zu bringen!“
„Alles klar!“
Der junge Mann drehte sich um und ging.
„Ist sie es?“
Carlos drehte sich überrascht herum. Er hatte Eric nicht kommen sehen.
„Ja, mein Freund, sie ist es!“ Er lächelte einmal kurz. „Unsere Reise wird bald zu Ende sein. Dann werden wir die Früchte unserer Mühen ernten. Das verspreche ich dir!“
Eric nickte ihm wortlos zu, dann ging er in den Transporthubschrauber.
Carlos drehte sich wieder herum und sah, dass einer der beiden Kampfhubschrauber gerade neben ihm gelandet war.
Der Pilot stieg aus, nahm seinen Helm ab und trat zu ihm. „Er gehört ihnen, Sir!.“
Carlos nickte nur, nahm den Helm, setzte ihn auf und stieg in den Hubschrauber.
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