„Wie er auch alle anderen gefunden hat. Ich weiß es nicht. Oh, Fernando, er ist so furchtbar mächtig und er wird es mit jedem Toten immer mehr. Vielleicht ist es schon zu spät für uns alle!“
„Das darfst du nicht sagen. Es muss eine Chance geben, ihn aufzuhalten.“
„Wie, Fernando? Wie sollte er noch aufzuhalten sein?“
„Ich weiß es nicht, aber es muss eine Möglichkeit geben. Alles hängt davon ab, ob wir seine Identität aufdecken können. Wenn wir wissen, wer er ist, können wir ihn auch bekämpfen!“
„Dafür ist es für mich jetzt zu spät, Fernando. Ich habe verloren. Mein Ende ist sehr nahe. Aber er darf niemals in den Besitz meines Geistes kommen. Also gib mir Frieden, indem du sein Hüter wirst, bevor er ihn mir entreißt. Bitte!?“ Philippe schaute seinen Freund flehend an.
„Natürlich werde ich das. Es ist mir eine Ehre!“
„Dann lass uns beginnen. Wir haben nicht mehr viel Zeit!“
Der Pater schloss seine Augen.
Fernando nahm beide Hände in die Höhe, legte sie an die Schläfen des Geistlichen, drückte ein wenig zu, schloss dann ebenfalls seine Augen.
Nur eine Sekunde später begannen die Druckstellen auf der Haut des Paters zu leuchten. Erst gelb, dann in einem gleißenden Weiß.
Das Licht breitete sich schnell aus, wanderte Fernandos Arme hinauf, zu seinen Schultern, seinem Nacken, um schließlich von seinem Gehirn absorbiert zu werden.
Je länger der Vorgang dauerte, desto heftiger begannen Philippes und Fernandos Körper zu zittern.
Das Wissen einer ganzen Existenz war eine unglaubliche Macht, deren Übergang sehr viel Kraft erforderte.
Doch nach dreißig Sekunden erstarb das Licht aus Philippes Kopf.
Wie elektrisiert riss der Rechtsanwalt seine Arme auseinander und sank schweratmend auf die Knie.
Einen Augenblick später zuckte der Pater zusammen und schrie einmal auf. Sein Körper wirbelte herum, er krachte wuchtig auf den Schreibtisch, warf das Telefon herunter.
„Philippe!“ Fernando hatte sich wieder gefangen, stürzte zu seinem Freund, wollte ihm helfen.
„Lass mich! Es hat keinen Sinn mehr. Und jetzt geh. Du bist in allergrößter Gefahr!“
Und damit hatte Philippe völlig Recht, denn sein Henker auf dem Weg zu ihm, war nur zweitrangig an seinem Tode interessiert. In erster Linie ging es ihm nur um den Kristall in seiner Brust. Das hatten die Toten vor ihm eindeutig gezeigt.
Fernando musste ihn sofort wieder verlassen, sonst wäre ihrer beider Leben in Gefahr.
„Ich werde dich nie vergessen!“, sagte der Rechtsanwalt und schaute Philippe tief in die Augen.
Der Pater nickte nur, auch weil ihn ein erneuter Schmerz wieder in die Knie zwang.
In derselben Sekunde klopfte es an der Tür und einen Augenblick später trat Pedro, der Kirchendiener, ein.
Philippe zog sich, für Pedro unbemerkt, an Fernandos Schultern wieder auf die Füße.
„Es ist neun Uhr Pater. Zeit für die Abendmesse!“ Pedro blickte etwas überrascht, als er Fernando sah, denn er hatte ihn nicht kommen sehen.
Philippe lächelte gequält. „Natürlich, Pedro. Ich komme sofort!“
„Stimmt irgendetwas nicht, Pater? Sie sehen müde aus?“ Das war eine schlimme Untertreibung.
„Ich fühle mich heute nicht besonders, junger Freund. Gib mir noch eine Minute.“
„Natürlich, Pater.“
„Bist du so freundlich und würdest meinen Freund zum Ausgang begleiten?“
„Selbstverständlich, Pater.“ Pedro drehte sich ein wenig in der Tür und wartete geduldig, bis sich die beiden Männer voneinander verabschiedet hatten.
Dies geschah stumm. Dem flehenden Blick des Jüngeren entgegnete ein trauriger Blick des Alten, dann ein fester Händedruck.
Schließlich ging Fernando schnell an ihm vorbei in den Gang vor dem Arbeitszimmer.
Pedro folgte ihm gedankenversunken, überholte ihn und führte ihn zum Nebeneingang.
Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er sehr genau.
Doch zu fragen, dazu hatte er nicht den Mut.
Eine innere Stimme sagte ihm auch, dass es besser war, es nicht zu wissen, denn er konnte deutlich den Hauch des Bösen spüren, der in der Luft hing.
Pontevedra…
Schon vor dem Erreichen der Dorfgrenze drosselten die Rotoren ihre Leistungen.
Die Kirche am Nordende war nicht zu übersehen.
Sie war das größte und höchste Gebäude und hell erleuchtet.
Vor dem Haupteingang standen einige Autos, ein Porsche vor dem Nebeneingang.
Während der Transporthubschrauber weiter auf den Haupteingang zuhielt, lösten sich die beiden Kampfhubschrauber aus der Formation, um vor dem Nebeneingang und dem Nordende zur Landung anzusetzen.
Der Transporthubschrauber setzte wenige Sekunden später auf der großen Wiese etwa dreißig Meter vor dem Haupttor auf.
Fernando öffnete die Tür des Nebeneingangs in dem Moment, als der mächtige Rumpf des Helikopters nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Boden aufsetzte.
Sofort riss er die Tür wieder zurück, spürte von einer Sekunde zur anderen die ungeheure Menge Adrenalin, die durch seinen Körper schoss.
Ein paar Sekunden nur und er wäre weg gewesen, doch so war sein Fluchtweg versperrt und er jetzt auch in tödlicher Gefahr.
„Gibt es noch einen anderen Ausgang?“ fragte er Pedro.
„Nur das Haupttor!“ Der Kirchendiener war erstaunlich gefasst.
Fernando überlegte eine Sekunde. „Ich muss es versuchen!“ sagte er dann.
Pedro nickte und die beiden hasteten den Gang weiter hinauf in das Kirchenschiff.
In dem Moment, da Philippe zum ersten Male die Rotoren hörte, schoss ihm sofort ein Gedanke durch den Kopf: Zu früh!
Sogleich war sein Schmerz wie weggeblasen und er zwang sich zum Handeln, denn Fernando konnte unmöglich genügend Zeit gehabt haben, um zu fliehen.
Also hastete der Pater aus seinem Zimmer und erkannte bei einem flüchtigen Blick aus dem Seitenfenster, dass er Recht hatte. Der Porsche stand noch immer vor der Tür.
Und er sah noch etwas: Den riesigen Kampfhubschrauber, der sich wie ein monströses Insekt direkt neben das Auto setzte.
Sofort eilte er weiter in das Kirchenschiff, rannte vorbei an der Kanzel zum Altar und erkannte seine beiden Freunde am Haupttor, während ihn ein erneuter tiefer Schmerz in die Knie zwang.
Es war nur eine schwache Hoffnung, das wusste Fernando schon, bevor er das Tor öffnete.
Als er dann etwa dreißig Meter vor sich den mächtigen Rumpf des Transporthubschraubers sah, aus dem eine Handvoll Gestalten stiegen, wusste er, dass ihm das Schicksal nicht den Hauch einer Chance gab.
Sofort schloss er das Tor wieder, drehte sich herum, erkannte erst jetzt die vielen Menschen im Kirchenschiff.
Die Mehrzahl hatte sich erhoben, war unruhig, ängstlich. Einige redeten auf Pedro ein, andere sprachen zu Philippe.
Doch der Pater antwortete nicht, suchte nur Fernandos Augen.
Als auch sein Freund ihn ansah, deutete er ihm an, zu ihm zu kommen.
Fernando hastete zum Altar, wo sich Philippe gerade wieder vollständig auf die Füße gebracht hatte. Der Pater schob ihn hinter den schweren Granitstein und hob das herrlich verzierte Tuch an, das den Altar fast ganz bedeckte und an seinen Seiten bis zum Boden herabhing.
„Es ist deine einzige Chance!“ sagte Philippe und deutete auf den Hohlraum, der dort in den Stein gemeißelt war und gerade genug Platz für einen Menschen bot.
Fernando überlegte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde und beugte sich hinab.
Bevor er sich jedoch hinhocken konnte, spürte er Philippes Hand an seinem Arm.
Noch einmal drehte er sich zu seinem Freund und schaute in traurige, fast weinende Augen.
„Es tut mir leid!“ Philippe war kaum zu hören.
Fernando zögerte einen Augenblick, dann sprach er kräftig und ruhig. „Wenn wir es nicht schaffen, werden es unsere Freunde tun. Heute ist hier nicht das Ende. Es wird einen Weg geben, ihn zu stoppen. Das weiß ich!“
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