Es war jetzt vier Uhr nachmittags.
Bis zur Abendmesse um 21.00 Uhr hatte er keinerlei Termine und somit genügend Zeit, seine Angelegenheiten entsprechend zu regeln.
Man hörte sie, bevor man sie sah.
Ein Flüstern, das zu einem Rauschen anwuchs und in einem ohrenbetäubenden Dröhnen über die Berggipfel jagte.
Ihre mächtigen Schatten rasten dahin, vermischten sich immer mehr mit dem Dunkel der Nacht auf ihrem unaufhaltsamen Weg in die Provinz Pontevedra .
Er hörte das Mofa durch das geöffnete Fenster die Einfahrt hinaufkommen.
Dies war das erste Mal, dass er von seinem Schreibtisch aufschaute.
Während draußen der Motor vor der Kirche verstummte, ruhte sein Blick erneut auf der Wanduhr und er stellte beinahe schon entsetzt fest, dass er fast vier Stunden ohne Pause geschrieben hatte.
Im Licht der Schreibtischlampe erkannte er, das er fast dreizehn Seiten zu Papier gebracht hatte.
Sein ganzes irdisches Vermächtnis.
Doch er war noch nicht am Ende. Und die Zeit raste dahin. Er musste sich beeilen und konnte dabei doch nur hoffen, dass Fernando wirklich noch rechtzeitig erscheinen würde.
Im selben Moment trieb ihm erneut ein gewaltiger Schauer Schweiß auf die Stirn, hätte sein Herz, wenn er denn eines gehabt hätte, wie eine Seifenblase zerplatzen lassen.
Doch er besaß dieses Organ nicht, obwohl dies nicht immer so war.
Denn geboren wurde er als ganz normaler Mensch, mit einem ganz normalen Herzen - damals vor mehr als achthundert Jahren!
Die Dunkelheit nahm ihre Schatten in sich auf, verschlang sie und zurück blieb nur das gewaltige Dröhnen der Maschinen.
Es waren drei an der Zahl und sie schossen mit fast zweihundert Meilen die Stunde über die Berggipfel.
Ihr Ziel war eindeutig und sie hielten direkt darauf zu.
Das Unheil näherte sich mit Riesenschritten und es kam unaufhaltsam!
Wie er erwartet hatte, kam Pedro, der Kirchendiener, der vor wenigen Minuten mit seinem Mofa vorgefahren war, nicht in sein Arbeitszimmer, sondern richtete zunächst die Kirche für die bevorstehende Abendmesse her.
Das gab ihm Gelegenheit, sein Werk zu beenden, indem er sein irdisches Vermächtnis in einen fensterlosen Briefumschlag steckte, zuklebte und dann den Namen Alberto darauf schrieb.
Ja, sein irdisches Vermächtnis musste an einen Menschen gehen, dem er vertrauen konnte und von dem er wusste, dass er sein Werk so fortführen würde, wie er es sich gewünscht hätte. Und mit dem Bürgermeister war er seit vielen Jahren eng befreundet.
Er hätte es ihm persönlich sagen sollen, aber die Zeit war zu knapp und außerdem hätte er es wohl auch nicht fertiggebracht, ihm diese schmerzhafte Nachricht selbst zu überbringen.
So blieb ihm nur die Wahl dieses Briefes, den Alberto finden würde, wenn alles vorbei war.
Wenn alles vorbei war und sich alle gegen ihn wenden würden, weil sie nicht begreifen würden, was geschehen würde, es auch nicht begreifen konnten.
Denn sie alle waren doch nur einfache Menschen, die sich niemals vorstellen konnten, dass ihr Pater sich, wenn auch unbewusst, erdreistet hatte, sich die Macht Gottes zu eigen zu machen und damit nicht nur den Fluch der Unsterblichkeit heraufbeschwor, sondern auch Tod und Verderben über so viele Unschuldige gebracht hatte.
Wenn sie es erfahren und mit eigenen Augen sehen würden, war es für ihn bereits zu spät.
Sein Tod würde seine wahre Identität hervor- und seine Gemeinde gegen ihn aufbringen.
Der Brief vor ihm auf dem Schreibtisch war seine Hoffnung, dass ein guter Freund die gemeinsamen Jahre nicht vergaß, sich ihrer bewusst wurde und zu verstehen versuchte.
Wenn er am Ende seine Erkenntnis den anderen mitteilen würde, war sein Wirken auf diesem Planeten nicht völlig umsonst gewesen.
Doch sein irdisches Vermächtnis war nur ein Teil dessen, was er zu Ende bringen musste, bevor er starb.
Er musste dafür sorgen, dass sein Geist und sein Wissen niemals in die Hände dieses Teufels gelangen würden, dessen Ankunft er immer deutlicher spürte.
Deshalb das Telefongespräch mit Fernando.
Der hochgeachtete Rechtsanwalt war ein enger Freund von ihm - und er war ebenfalls unsterblich.
Nur ihm allein konnte er sein geistiges Vermächtnis übergeben.
So wie es in seinem Volk schon seit Jahrtausenden Tradition war.
Und plötzlich begann er zu weinen, während er sich vor das Antlitz des Herrn kniete und in tiefe Andacht verfiel.
Viele Jahrhunderte nach diesem schrecklichen Tag, in der er und elf andere versucht hatten, die göttliche Energie, die sein Volk so viele Jahrtausende behütet hatte, vor den boshaften Eindringlingen zu beschützen, würde seine Existenz heute enden.
Und es war nichts zurückgeblieben von der einstigen Hoffnung, nur die Gewissheit, gründlich versagt zu haben!
Sie jagten in der Formation einer Pfeilspitze dahin.
Ein mächtiger Transporthubschrauber bildete die Vorhut, flankiert von zwei Kampfhubschraubern, schwer bewaffnet.
Eine bedrohlich wirkende Formation, furchterregend, tödlich.
Und am Horizont tauchten die Lichter Pontevedras auf!
Die Glocken wurden geläutet!
Philippe wirbelte förmlich herum, weil ihn der Klang tief entsetzte.
War es denn schon so spät?
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er fast eine Stunde kniend verbracht hatte, so tief in Gedanken war, dass er alles um sich herum vergessen hatte.
Draußen vor der Kirche waren bereits Stimmen zu hören. Die ersten Besucher trafen ein.
Doch wo nur blieb Fernando?
Er hatte gesagt drei Stunden. Jetzt waren es doch fast vier.
Oh, er durfte sich nicht verspäten, nicht dieses Mal.
Es wäre furchtbar für ihn gewesen, zu wissen, dass er sein geistiges Vermächtnis nicht weitergeben konnte.
Er erhob sich hastig, wollte schon zum Telefon eilen, um die Nummer von Fernandos Autotelefon zu wählen, als er einen kräftigen Motor die Auffahrt zur Kirche hinauf brüllen hörte.
Das war eindeutig der Porsche seines Freundes.
Sofort war er wieder ruhiger, froh, dass er die Dinge noch rechtzeitig zu Ende bringen konnte.
Doch schon im nächsten Moment hatte er wieder Angst, weil er wusste, dass mit Fernandos Ankunft, sein Tod nur noch eine Frage von Minuten war.
Sekunden später wurde an die Tür seines Arbeitszimmers geklopft und Fernando trat, ohne auf Antwort zu warten, herein.
Der Rechtsanwalt war Ende Vierzig und damit gut ein Jahrzehnt jünger als Philippe. Er war fast einen Kopf größer als der Pater, von kräftiger, sportlicher, braungebrannter Gestalt. Ein attraktiver, von den Frauen begehrter Mann, der stets lustig und aufgeschlossen war, es sei denn, er war im Gerichtsaal.
Dort verwandelte er sich in einen kühlen Taktiker, mit messerscharfem Verstand, kompromisslos gegen das Unrecht, wie ein Wolf um sein Opfer schleichend, um es im richtigen Moment zu packen.
Dort im Gerichtsaal wurde er ein anderer Mensch. Ein Mann der Gerechtigkeit, auf der Seite der Unschuldigen, der Opfer.
Er verteidigte Jedermann, solange er unschuldig war. War sein Klient jedoch schuldig und erhoffte sich von ihm nur Strafminderung wurde aus dem Verteidiger des Gejagten ein gnadenloser Jäger.
Schon so manch Klient hatte dies in einer Gefängniszelle bereuen müssen.
Und bei seinem Eintritt in das Arbeitszimmer des Paters hätte man annehmen können, er wäre in einem Gerichtsaal.
Sein ganzer Körper war angespannt, sein Blick ernst und fordernd.
Ja, er war sich der Bedeutung dieses Augenblicks nur zu bewusst.
„Wie kannst du dir nur so sicher sein?“ fragte er dann auch ohne Umschweife, als er auf Philippe zukam und ihm die Hand reichte.
„Der Schmerz in mir ist eindeutig!“
„Aber...?“ Fernando stockte einen Augenblick, während er die Augen seines Gegenübers suchte. „Wie hat er dich gefunden?“
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