Zu diesem Zeitpunkt nahm man mit ihm, Miller, Kontakt auf, gab ihm die notwendigen Informationen und gab ihm deutlich zu verstehen, was man vom ihm erwartete.
Und Miller gab all sein Können, um dieses Ziel zu erreichen, damit der Fremde nicht noch mehr Schmerz erleiden musste, doch vergebens.
Auch ihm gelang es nicht, ihn zum Reden zu bringen.
So konnte er den furchtbaren Misshandlungen durch das Militär nur machtlos zusehen und ihn im Anschluss mit seinem medizinischen Wissen, so gut er konnte, versorgen.
„Oh Gott, gib ihnen endlich, was sie wollen!“ hatte er ihm einmal mit Tränen in den Augen ins Gesicht gesagt, weil er seine Verzweiflung über die Gewalt, die seinem Schützling angetan worden war, nicht mehr zurückhalten konnte.
Und hatte er in all den Jahren keine Regung im Gesicht des Fremdes gesehen, so konnte er jetzt deutlich das Leuchten in seinen Augen sehen, das ihn magisch anzog und nur eine Sekunde später schüttelte der Fremde einmal langsam, aber ganz deutlich, den Kopf.
Und da wusste Miller, dass all seine Bemühungen nicht umsonst gewesen waren.
Der Fremde verstand ihn, jedes Wort, jede Geste, alles.
Und in seinen Augen erkannte Miller einen unbändigen Lebenswillen, wie er ihn bis dahin noch nirgendwo gesehen hatte.
Ja, der Fremde wollte leben, ohne Zweifel, aber er wollte nicht so leben.
Und in den nachfolgenden Monaten konnte Miller erreichen, das er sich mit dem Fremden, auch ohne dass dieser ein Wort sprach, unterhalten konnte. Miller redete und der Fremde antwortete ihm mit eindeutigen Gesten oder Handzeichen.
So entwickelten sie eine besondere Art der Kommunikation und Miller erfuhr in sechs Monaten mehr über diese Kreatur, als in den vergangenen elf Jahren zusammen.
Und er erkannte sehr schnell, dass der Fremde friedlich gesinnt war. Er erfuhr, dass er keine Schuld an dem Absturz der Maschine hatte, dass er im Gegenteil versucht hatte, es zu verhindern. Deutlich sah man, dass er sehr traurig war, dass niemand sonst überlebt hatte.
Das überraschte Miller, nahm er doch an, das Militär hatte ihm gesagt, das er nicht der einzige Glückspilz war.
Also gab er ihm diese Information und von diesem Moment an wurde alles ganz anders.
Angst und Schrecken spiegelten sich im Gesicht des Fremden wieder, fast schon Panik.
Sie hatten es also überlebt, oh Gott , gab er ihm zu verstehen. Die Männer, die den Absturz ausgelöst hatten, sie waren mit dem Leben davongekommen.
Aber das durfte nicht sein. All die Jahre hatte er die Hoffnung gehabt, sie wären in den Flammen umgekommen, jetzt kam die schreckliche Wahrheit ans Licht.
Sie hatten überlebt und sie würden wieder Unheil über die Menschen bringen, denn es waren böse Kreaturen, hatten den Teufel im Leib und brachten Tod und Verderben, wo immer sie auftauchten.
Und das musste er verhindern, denn er war der Einzige, der das konnte.
Er war ein Geschöpf Gottes, ohne das schwache Herz eines Menschen. Nur er allein konnte dieser gewaltigen Energie aus den tiefsten Tiefen der Hölle entgegentreten.
Und das so schnell es nur ging!
Er musste von hier verschwinden.
Und er, Miller, musste sich entscheiden. Entweder er würde der Auslöser für die neue Zukunft sein und ihm helfen, die Handlanger des Teufels zu besiegen, oder sein Gegenüber würde ab sofort wieder und dann für immer schweigen.
Und Miller zögerte keine Sekunde. Er würde dem Fremden helfen. Er musste es einfach tun. Im Namen der Menschlichkeit und zum Wohle aller Menschen.
Also wurde ein Plan entwickelt, der einfach, aber effektiv sein musste.
Und Miller war jetzt mittendrin in seiner Ausführung.
Mit jeder seiner Handlungen war er dabei, die Geschichte der Menschheit neu zu schreiben.
Er trat vor die Tür, atmete noch einmal tief durch, dann drückte er den roten Knopf an der Wand, der Rick das Signal gab, die Tür zu öffnen.
Bevor der Wachmann die elektronische Sperre mit einem lauten Summton löste, vergewisserte er sich, dass alle Systeme grünes Licht zeigten.
Als der Summton ertönte, ergriff Miller den Türknopf und drückte kraftvoll dagegen.
Er trat zwei Schritte in den Raum, sah den Fremden regungslos auf dem Bett liegen, drehte sich wieder von ihm ab und wartete, bis die Tür langsam durch den elektronischen Türschließer wieder ins Schloss fiel.
Dann drehte er sich wieder in Richtung Bett, verharrte noch einmal für den Augenblick eines tiefen Durchatmens, bevor er zu ihm trat.
Doch der Fremde reagierte nicht.
Miller setzte sich neben ihn auf das Bett, berührte seine Schulter. Wieder nichts.
Der Fremde lag auf der Seite, hatte ihm so den Rücken zugedreht.
Miller drückte mit der flachen Hand gegen seine rechte Schulter, wollte erreichen, das sich sein Gegenüber auf den Rücken drehte.
Kaum hatte er seinen Körper berührt, kippte er kraftlos in seine Richtung und Miller konnte in das leblose, brutal zerschundene Gesicht des Fremden schauen. Offensichtlich hatten ihm die Schergen des Generals nicht nur Elektroschocks verpasst.
„Es ist alles in Ordnung!“ flüsterte Miller kaum hörbar, während er vorsichtig die beiden halbdurchsichtigen Pflaster entfernte, die er um Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand gewickelt hatte. „Rick hat meine Story gefressen!“ Miller schaute angestrengt in die weit aufgerissenen Augen des Fremden, wartete auf eine Reaktion, bekam plötzlich wieder Angst und Zweifel, und erkannte doch nur einen Wimpernschlag später das Flackern in den Augenlidern seines Freundes.
Das war das eindeutige Zeichen.
„Großer Gott!“ Miller sprach plötzlich laut, war sofort erregt und agierte hektisch. „Nein! Das darf nicht wahr sein! Bitte!“ Schnell untersuchte er den Körper des Fremden.
„Was ist los, Doc?“ Die Stimme kam aus dem Lautsprecher.
„Sie sind zu weit gegangen, Rick. Er hat keine Atmung mehr. Kaum Puls. Er stirbt!“ Miller sprang auf.
„Verdammt!“ kam es aus dem Lautsprecher. „Was sollen wir jetzt tun?“
„Öffnen sie die verdammte Tür! Wir müssen ihn wiederbeleben!“
„Aber...?“
„Gott, Rick, er darf nicht sterben!“ Miller war wieder den Tränen nahe, war in dieser entscheidenden Situation total nervös, griff instinktiv nach dem Türknopf und nur eine Sekunde später ertönte der Summer.
Miller riss die Tür so weit auf, wie er konnte, rannte sofort los, wusste, dass es jetzt um Sekunden ging, erreichte sehr schnell die Ausgangstür des Ganges, hämmerte wild dagegen.
„Nun machen sie schon Rick. Wir haben keine Zeit mehr!“ Sein Kopf zuckte kurz nach links, suchte die Zellentür, sah dass es nur noch wenige Momente dauern würde, bis sie wieder zufiel und hämmerte nochmals gegen die Tür.
Sein zweiter Schlag übertönte fast den Summton, doch sein Gehirn reagierte blitzschnell und er warf sich nach vorn.
In dem Moment, da er die Tür wuchtig aufgestoßen hatte, schrie er laut: „Sie ist auf!“ Dann konnte er noch für den Bruchteil einer Sekunde in die verwirrten Augen des Wachmanns sehen, bevor er die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand fest zusammenpresste und so den Auslöser für das Betäubungsgas freigab.
Rick war absolut nicht mehr Herr der Situation, denn das alles eskalierte so schnell, dass er die Kontrolle für wenige Momente aus der Hand gab und einen kleinen, aber entscheidenden Fehler machte.
Anstatt, wie im Regelwerk des Trakts festgehalten, die Tür zum Zellengang nur zu öffnen, wenn alle Zellentüren geschlossen waren, betätigte er jetzt den Schalter bereits eine Sekunde, bevor sich die Zellentür des Fremden vollständig geschlossen hatte.
Und das alles nur, weil er helfen wollte. Dem Doc, den er für das, was er im Namen der Menschlichkeit versuchte, so sehr mochte, dass er ihm in diesem Moment vertraute und dem Fremden, den er mehr als ein Jahrzehnt bewacht hatte und dessen Folterungen bei ihm Mitleid hervorriefen.
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