„Ich habe heute Morgen alle Hände voll zu tun“, sagte Faolane weiter, „aber Kibira wird dir zeigen, wo du dich waschen kannst und dich ein bisschen herumführen. Ein paar Dinge kennst du ja noch von damals. Heute Nachmittag kommen die ersten Erntewagen von den Feldern zurück, da wird dann jede Hand gebraucht.“ Ich sah sie unsicher an. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie körperlich gearbeitet und konnte mir nicht vorstellen, wie ich wohl für die Ernte oder die Entladung der Wagen nützlich sein könnte. Scheinbar schien sie aber einfach davon auszugehen, dass ich nun einmal hier war, dazu gehörte und somit auch mit arbeiten würde. Ich war verdutzt über so viel Selbstverständlichkeit aber begann, doch gleichzeitig mich daran zu gewöhnen und es zu genießen.
Kibira kam auf mich zu, drückte mir herzlich die Hand und sagte mit einer Stimme, die mich immer mehr an einen fröhlichen großen Vogel erinnerte: „Herzlichen Willkommen Lana, schön, dass du da bist. Das ist Connor.“ Sie wies auf das Baby. Der Kleine hatte himmelblaue Augen und schaute mich interessiert an. Dann grunzte er leise und schlief wieder ein. „Du musst hungrig sein“, zwitscherte sie weiter. „Wir machen jetzt erst mal etwas zu essen und danach gehen wir zum Fluss, damit du dich richtig waschen kannst.“ Faolane nickte mir aufmunternd zu und verabschiedete sich dann von uns. Etwas hilflos sah ich ihr hinterher.
Kibira machte kein großes Aufhebens um mich und meine Person, sie fragte auch nichts, sondern machte sich an der Truhe zu schaffen, stellte einen Laib Brot, Käse und etwas Obst auf den Holztisch, dazu zauberte sie noch kleine braune Kuchen und Milch von irgendwo her. „Ein Königreich für einen Kaffee“, dachte ich und schenkte mir aus dem tönernen Krug Milch in einen Becher. Während ich aß, merkte ich erst, wie hungrig ich wirklich war. Wann hatte ich das letzte Mal gegessen? War ich wirklich erst ein paar Stunden hier? Kibira nahm sich einen weiteren braunen Kuchen und biss genüsslich hinein. Sie verdrehte die Augen und seufzte: „So werde ich die Pfunde von Connors Geburt nie wieder los, aber es schmeckt einfach zu gut.“ Sie zwinkerte mir zu und erinnerte mich plötzlich an Mara. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mich, ich vermisste sie schon jetzt schrecklich.
Mir fiel ein, dass ich ja noch ihr Abschiedsgeschenk in meinem Rucksack hatte. Sobald ich wieder alleine war, würde ich mir Zeit nehmen und es in Ruhe auspacken. Suchend blickte ich mich um und entdeckte meinen Rucksack in der Ecke der Hütte neben dem Bett. Irgendwie beruhigte es mich, dass ein Teil meines alten Lebens hier war. Nach dem Essen bekam ich gewaltige Lust auf eine Zigarette, aber irgendwie kam es mir komisch vor, mich in dieser Umgebung mit einem Glimmstängel vor die Hütte zu setzen. Außerdem, wenn ich hierbleiben wollte, musste ich ohnehin über kurz oder lang ohne Zigaretten auskommen. Einen Automaten würde ich hier wohl vergeblich suchen. Ich kicherte kurz nervös, bei dem Gedanken. Kibira sah mich fragend an, sagte aber nichts. Connor quengelte leise und sie löste einen Knoten an ihrer Tunika und legte den Kleinen an ihre Brust. Dann lächelte sie mich an und seufzte zufrieden. „Er ist erst sieben Tage auf der Welt und doch könnte ich mir nicht vorstellen, ohne ihn zu sein“, sagte sie und betrachtete ihren Sohn zärtlich.
Ich beobachtete die Szene schweigend. Der trinkende Säugling hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und ich fühlte mich nach dem Essen schon wieder müde und schwer. Ich gähnte herzhaft und Kibira sagte, als wenn es das Normalste der Welt wäre: „Die Reise hierher schlaucht, die nächsten Tage wirst du wahrscheinlich viel schlafen, aber das geht vorbei.“ Ich sah sie fragend an und als sie nicht weiter sprach, fragte ich vorsichtig: „Bist du auch hierhergekommen, also aus, äh von, hmm...“ Ich verstummte. Woher kam ich eigentlich? War das noch dieselbe Welt, die ich kannte? War es ein Sprung in eine andere Dimension, waren es nur parallele Welten und man konnte einfach hin und her laufen, wie es einem gefiel? Irritiert schüttelte ich den Kopf. Die Gedanken waren eindeutig zu kompliziert für meinen Zustand. Kibira lachte hell. „Nein“, sagte sie, „ich bin hier geboren, aber es verirren sich immer mal wieder Reisende hierher, einige bleiben, einige gehen wieder, aber in der letzten Zeit sind es wenige geworden. Ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern, dass jemand die Reise hierher zweimal angetreten hat.“ Sie verstummte abrupt und ihr Gesicht wurde mit einem mal sehr ernst. „Faolane wird dir das sicher alles irgendwann erklären, sie weiß mehr als wir alle über das Reisen. Aber noch ist es zu früh. Gib dir etwas Zeit.“ Ich machte den Mund auf und klappte ihn dann wieder zu. Ein Blick in ihr Gesicht sagte mir, dass sie nicht bereit war, weiter mit mir über dieses Thema zu reden. Sie sah plötzlich verschlossen, fast ängstlich aus.
Connor schien satt zu sein und sie wickelte ihn zurück in ihr Tuch. „So“, sagte sie ein wenig zu laut und zu fröhlich, als wenn sie damit finstere Gedanken vertreiben wollte, „nun sollten wir dafür sorgen, dass du nicht länger herum laufen musst, wie ein Erdferkel.“ Sie griff mit der Hand nach meinen schlammverklebten Haaren. „Vielleicht kannst du mir ja auf dem Weg zum Fluss erklären, wieso du den Kopf in ein Matschloch getunkt hast.“ Sie grinste breit und die eigenartig bedrückte Stimmung war verflogen.
In diesem Augenblick traf ich eine Entscheidung. Ich wollte wissen, warum ich hier war, woher ich kam. Ich wollte wissen, warum sich niemand darüber wunderte, dass ich einfach da war und ich wollte auch verstehen, warum mich dieser Ort so magisch angezogen hatte, aber ich wollte es nicht jetzt. Entgegen all meiner sonstigen Ungeduld, diesmal wollte ich mir Zeit nehmen und das genießen, wonach ich mich all die Zeit gesehnt hatte und was mir hier plötzlich zum Greifen nah erschien. Eine große Ruhe breitete sich in mir aus und ich atmete tief die süße Sommerluft ein.
Wir gingen gemächlich durch das kleine Dorf, das wie ausgestorben da lag. Barfuß schlenderten wir über die Wiesen zum Fluss, in dem ich schon das erste Mal gebadet hatte. Ich trug ein Bündel mit frischer Kleidung, die Faolane für mich bereit gelegt hatte, außerdem hatte ich ein paar einfache Sandalen dabei, die ich in meinem Rucksack mitgebracht hatte. Ich konnte auf keinen Fall zu einer Leinen-Tunika meine derben Trekking-Schuhe tragen. Hier gingen alle barfuß, oder trugen schmale Ledersandalen. Meine pedikürten Füße waren aber nicht besonders gut dazu geeignet barfuß über Sandboden mit Steinen zu laufen und so entschied ich, mir diesen kleinen Luxus weiterhin zu gönnen. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich in kürzester Zeit mit schmerzverzerrtem Gesicht hinter Kibira her gehüpft, die trotz des Babys in ihrem Tuch kräftig ausschritt.
Die Sonne schien warm und nach ihrem Stand zu urteilen, schien es bereits Mittag zu sein. Galt hier die gleiche Zeit, die ich kannte? Wie, als wenn ich meine Frage laut ausgesprochen hatte, sagte Kibira: „Wenn wir zurück sind, kommen sicherlich auch die anderen bald zurück. Im Moment holen wir Heu ein und fast alle arbeiten gemeinsam bis zum Nachmittag auf den Feldern. Außer ein paar Männer, die heute Morgen zunächst die Zäune der abgelegenen Weiden kontrolliert haben, sind alle mit der Ernte beschäftigt.“ „Und dein Mann, wo ist der?“, fragte ich neugierig. Sie grinste. „Torge, er würde alles tun, um nur nicht auf dem Feld helfen zu müssen. Die Gelegenheit, mit Dornat ein bisschen durch Feld und Wald zu reiten, lässt er sich nicht entgehen. Wahrscheinlich haben sie es nicht gerade eilig.“ Sie grinste wieder, diesmal etwas schief und mit einem Blick auf das Baby, sagte sie: „Männer! Hoffentlich hat er DAS nicht von seinem Vater geerbt. Ein bisschen Hilfe zu Hause wäre manchmal schön.“ Sie seufzte. Ich lächelte bei dem Gedanken, dass es hier scheinbar die gleichen Probleme gab wie in meiner Welt. Meine Welt, war das noch meine Welt? Entschieden schob ich den Gedanken weg.
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