Sabine Michel / Dörte Grimm
Die anderen Leben
Generationengespräche OST
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ebook im be.bra verlag, 2020
© der Originalausgabe:
be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2020
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
post@bebraverlag.de
Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin
Umschlag: typegerecht berlin (Titelfoto: © Sabine Michel)
Fotografien im Innenteil: © Ute Mahler / OSTKREUZ, aus der Serie »Zusammenleben«
ISBN 978-3-8393-0150-0 (epub)
ISBN 978-3-89809-179-4 (print)
»Dies ist ein Buch, dem jeder sich selbst hinzufügt.
Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung.«
Christa Wolf
im Vorwort zu »Guten Morgen, du Schöne« von Maxie Wander
Vorwort
»Du lernst, nicht weiter nachzubohren«Annett und Klaus-Dieter
»Der Druck wird immer größer, immer Jagd, immer präsent sein«Michael und Gerd
»Ich wollte, dass du ein glückliches Kind bist«Anja und Ingrid
»Ich hatte dann noch einige Männer«Sandra und Annegret
»Ich fühle mich nicht wie ein Nazi«Simon, Dirk und Josephine
»Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen«Mara und Dietmar
»Ich war schon sehr kritisch durch meine Mutter«Katrin und Brigitte
»Ich bin in diesem Land nicht zu Hause«Mirko und Herbert
»Dass sie einfach mal sagt, das hast du aber gut gemacht«Kristina und Sibille
»In unserer Generation ist das nicht das Gefühl«Susann und Monika
Zu den Fotografien von Ute Mahler
Glossar
Dank
Die Autorinnen
Unseren Kindern, die uns Fragen stellen werden.
Sabine Michel & Dörte Grimm
Seit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung stehen Menschen mit ostdeutschen Biografien vor den Herausforderungen einer gesamtdeutschen Gegenwart, die in ihrem identitätsstiftenden Selbstverständnis noch immer zu begreifen ist.
Mit der rasanten Installation westdeutscher Strukturen nach 1990 ist die Auseinandersetzung mit der Zeit des Lebens in der DDR sowohl gesellschaftlich als auch innerhalb der Familien weitgehend ausgeblieben. Wenn es Auseinandersetzungen mit der DDR-Vergangenheit gab, dann oft aus westdeutscher Sicht, die viele Ostdeutsche nicht als die ihre empfanden und in der ihr Anderssein meist als minderwertig und selbst verschuldet behandelt wurde. Dass die Zeit nach 1989 nicht nur Öffnung und viele Möglichkeiten, sondern auch massive persönliche Einschnitte für jeden Einzelnen bedeutete, fand lange kaum Eingang in die gesamtdeutsche Erzählung.
Im »Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit« heißt es 2019, dass sich über die Hälfte der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen. Die letzte Bundestagswahl hat auch im Osten des Landes schockierende Wahlergebnisse hervorgebracht. Die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik werden von einem erheblichen Teil der Bevölkerung als hohl empfunden und eine fremdenfeindliche, nationalistische Partei feiert Erfolge. Aus Sicht des Westens sollte die Wende 1989 den Osten in die westliche Wertegemeinschaft integrieren. Droht das zu scheitern? Im Osten haben sich das Erbe zweier Diktaturen und die Kränkung der Nachwendejahre in einem Teil der Gesellschaft zu einer demokratieskeptischen Haltung vermischt, die sich nun gegen den nächst »Schwächeren«, die Geflüchteten, das »Fremde« entlädt. Fragen nach dem Warum und Woher werden lauter und dringender. Wir brauchen generationenübergreifende, ehrliche Gespräche, die an die »DNA« Ostdeutschlands herangehen, in deren Diversität sich jede und jeder wiederfinden kann und die mit Schlagwörtern wie Stasi, Unrechtsstaat, Täter und Opfer nicht zu fassen sind.
In einer Szene ihres Dokumentarfilms »Zonenmädchen«, der ihren und den Werdegang ihrer Schulfreundinnen vor und nach dem Mauerfall skizziert, sitzt Sabine Michel mit ihrer Mutter an einem Tisch. »Nicht mal mir hast du erzählt, dass dein Vater Nazi war«, sagt sie zur Mutter. Die antwortet: »Wie willst du denn dann dastehen! (…) Hat eben auch fest gemacht. Hat eben auch härter gemacht. Ich war ein überängstliches Kind und ich wollte so sein wie die anderen.«
Diese Antwort ist ein exemplarischer Ausdruck der DDR-spezifischen Vereinnahmung des Privatlebens. Michels Eltern sind in der DDR mit ihren antifaschistischen und internationalistischen Idealen sozialisiert worden, haben die Wende als Lehrer durch- und überlebt und sind seit nunmehr dreißig Jahren offiziell Bundesbürger. Sie haben ihre Tochter liebevoll und ganz im Sinne der familiarisierten Struktur des sozialistischen Staates erzogen. Eine Auseinandersetzung mit ihrem Leben in der DDR hat bis heute nicht stattgefunden. Eine Kommunikation der Tochter mit ihren Eltern über den wirklichen DDR-Alltag als Fortwirken und ständige Neukonsolidierung autoritärer hierarchischer Strukturen mit wenig Toleranz gegenüber Veränderungen oder Neuerungen, über einen Antifaschismus als Teil der DDR-Staatsideologie und damit als Loyalitätsfalle und über den Versuch des Einzelnen, sich damit irgendwie zu arrangieren, ist immer noch schwer. Diese Filmszene war für Sabine Michel der Beginn der Auseinandersetzung mit der generationenübergreifenden andauernden Sprachlosigkeit in Ostdeutschland.
Dörte Grimm hat an der Seite ihrer Mutter in den Neunzigerjahren den Niedergang und Abbau eines großen Textilbetriebes miterlebt. Der Obertrikotagenbetrieb »Ernst Lück« in Wittstock ist durch die Dokumentarfilme von Volker Koepp bekannt geworden. Hier haben einmal 2 800 Menschen gearbeitet; 1992 wurde der Betrieb eingestellt. Dörte Grimms Mutter musste damals als Produktionsleiterin mehrere Hundert Arbeiterinnen und Arbeiter kündigen. Sie tat es, gegen ihre Überzeugung, und wurde dafür von ihren ehemaligen Kollegen und Kolleginnen angegriffen. Am Ende verlor sie selbst ihre Arbeit. Dieser doppelte Schmerz wirkt bis ins Heute; Kommunikation darüber ist emotional und schwierig. Als 2018 anlässlich des fünfzigsten Betriebsjubiläums das Wittstocker Museum die Türen zu einer Ausstellung öffnete, stellte man fest, dass das betriebseigene Archiv verschwunden war. Von fünfzig Jahren Betriebsgeschichte blieb kaum etwas; nichts, worauf man stolz verweisen, den Kindern erzählen konnte.
Dörte Grimm war zwischen 2016 und 2018 Vorsitzende des Vorstands der »Perspektive hoch drei«. So nennt sich eine Gruppe jüngerer Ostdeutscher der »Dritten Generation Ostdeutschland«, die sich vor zehn Jahren zusammentaten, als sie merkten, dass der Diskurs über Ostdeutschland medial und gesellschaftlich fast ausschließlich von Westdeutschen geführt wurde. Das wollten sie ändern, um Erfahrungen und Wissen von und über diese Generation in der gesamtdeutschen Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Dörte Grimm drehte über Vertreter ihrer eigenen Generation einen Dokumentarfilm: »Die Unberatenen. Ein Wendekinderporträt«. Als sie den Film, in dem auch persönliche Archivaufnahmen ihrer Kindheit zu sehen sind, ihren Eltern zeigte, verließen beide wortlos das Zimmer. Auch hier: Gefühlsstau.
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