Gerd erleidet in der Zeit mehrere Schlaganfälle. Die Familie berät, wie es weitergehen kann, denn allen ist klar: Der Vater kann den Betrieb nicht mehr mit voller Kraft führen. Michael ringt mit sich, doch schließlich überzeugt er seine aus Westdeutschland stammende Frau, einen Neuanfang zu wagen und mit ihm aufs Dorf in die Heimat zu ziehen.
Ein Schritt, der seine Freunde und seine Familie mehr als überrascht. Niemand hat damit gerechnet, dass Michael einmal in die Prignitz zurückkehren würde. »Ich habe immer gedacht, du bist weg, du kommst doch nie wieder zurück.« Gerd zieht die Schultern hoch. »Und jetzt sitzen wir hier zusammen auf unserem Lieblingsplatz, wo wir schon früher gern gesessen haben, und trinken Kaffee.«
Zunächst arbeitet Michael an der Seite seines Vaters, bis er mit zweiunddreißig den Betrieb übernimmt. Auch wenn die ersten Jahre schwer gewesen sind, ist in Michael eine neue Verbindung zu seiner Heimat gewachsen. Inzwischen ist seine Tochter fast zehn und sein Sohn fünf Jahre alt, drei Generationen leben nebeneinander, miteinander und arbeiten zusammen: Michaels Mutter und seine Frau helfen im Betrieb mit, »sonst würde das alles gar nicht gehen«. Durch die Nähe sehen die Großeltern die Enkelkinder aufwachsen, worüber sie sehr glücklich sind.
All dies gibt Michael die Kraft, die er braucht, um mit dem wachsenden Marktdruck mitzuhalten, der auch für die mittelständischen Prignitzer Unternehmen zu spüren ist. »Das ist die Gefahr in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem: Jedes Jahr muss Gewinn erwirtschaftet werden, immer mit einer Steigerung«, das hat Gerd gelernt.
Was Michael und seine Angestellten im Monat verdienen, ist hart erarbeitet. Doch für Michael als Unternehmer wird es zunehmend schwieriger. Jeden Monat zahlt er Abgaben, trägt die Verantwortung für das ganze Unternehmen. Es fehlt an ausgebildetem Fachpersonal, und diejenigen, die er einstellt, »wollen viel verdienen und immer weniger leisten«. »Aber«, sagt er, » uns fragt niemand, ob wir nach siebzig, achtzig Stunden mal Freizeit haben oder nicht.«
Michael hält die Veränderungen der letzten dreißig Jahre für eine große Errungenschaft, glaubt, die Dritte Generation Ost habe unglaublich davon profitiert. Doch wie auch vor dreißig Jahren gibt es noch und wieder die Diskrepanz zwischen Stadt und Land. Wie sieht die Berliner Politik aus der Prignitzer Perspektive aus? Michael und Gerd können nicht mehr erkennen, wer dort die gesellschaftliche Mitte vertritt, der sie sich mit ihrem Betrieb zugehörig fühlen.
»Du wählst alle vier Jahre, inzwischen haben aber viele das Gefühl, es ändert sich doch nichts«, sagt Michael. Er glaubt, es wäre gefährlich, Menschen die sich von der Politk abwenden, ins »rechte Lager« zu stecken oder für »durchgefallen« zu erklären. Aber Politik, so sein Fazit, handele oft von der Gesellschaft abgetrennt.
Vater und Sohn erinnern sich gern an die Zeit der DDR, vor allem an die gemeinsamen Feste im Dorf. Besonders an die Faschingsfeiern, die von allen organisiert wurden, für die sich alle ihre Kostüme selbst nähten. Sind all die Errungenschaften der Freiheit in erster Linie und des Marktes in zweiter Linie so viel wert, wenn die Menschen nicht mehr zusammenkommen, sich nicht mehr direkt austauschen, jeder für sich in seiner kleinen Zelle vor sich hin werkelt?
»Es wird immer schwieriger, solche Gemeinschaften aufrecht zu erhalten in dieser Gesellschaft«, meint Michael, »alles Druck, immer Jagd, immer präsent sein, du kommst gedanklich gar nicht mehr zur Ruhe.« Michael organisiert den ortsansässigen Karnevalsverein mit, aber »ehrenamtliche Arbeit, das ist nicht mehr selbstverständlich«.
Gerd nickt. Besonders mit der durch die Medien erzeugten »Schnelllebigkeit«, damit käme er nicht mehr zurecht. »Wenn ich mit einem Kunden spreche, will ich direkten Kontakt mit ihm, keine E-Mail schreiben und alles immer sofort beantwortet haben. Ganz schrecklich ist das!«
Michael kann sich den zeitgemäßen Anforderungen nicht verwehren, aber sein Vater hat seinen Arbeitsstil geprägt. Eine kleine Nische der Verweigerung hat er sich bewahrt: Warum soll er als Unternehmer bei Facebook posten? Darin sieht er keinen Sinn. »Geschäfte macht man anders.«
Gerd und Michaels Dorf befindet sich seit Jahren im Wandel. Entscheidungen über die Infrastruktur werden seit der letzten Kreisgebietsreform in der nächstgrößeren Kreisstadt gefällt. Der Ort bestreitet nicht mehr seinen eigenen Haushalt, Menschen, die nicht hier leben, entscheiden zum Beispiel über die Umgestaltung des Friedhofs oder die Jagdgenossenschaft, und keiner aus dem Dorf wird dazu befragt.
Wenn Gerd nachhakt oder sich einmischen will, interessiert das niemanden. Er fühlt sich für seine Nächsten und den Ort, in dem er und seine Familie seit Jahrzehnten leben, verantwortlich, aber man lässt ihn keine Verantwortung übernehmen. »Wir bauen Apparate auf, die kein Mensch mehr richtig beherrscht.«
Immer noch ist den beiden die Gemeinde eine Stütze, etwas Beständiges, das sie durch die Zeiten trägt. Dort engagieren sie sich, »nicht, weil wir die Heiligsten sind, sondern weil wir an bestimmte Dinge glauben«, sagt Michael. Aber sie erreichen kaum jemanden, weil es einfach uninteressant ist, in die Kirche zu gehen. Im Zeitalter von Smartphones hat die Kirche keine Chance.
Das Telefon klingelt. Michael sieht mich entschuldigend an, es gibt so viel zu tun. Auch Gerd hat »genug geredet für heute«. »Arbeit liegt immer herum.«
Die eigene Scholle. Und sieh mal in den Himmel! Die Sonne hat sich verzogen, es riecht nach Gewitter. Auf dem Weg über die Prignitzer Felder weht jetzt ein stärkerer Wind. Die Bäume biegen sich und die Schwalben fliegen tief. Ich verfahre mich auch auf dem Weg zurück, verpasse die richtige Abzweigung und lande in einem Wald. Irgendwann erreiche ich die Straße. Das Land hat mich wieder freigegeben.

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