Schon 1957 gerät der Pfarrer der Gemeinde durch »antisozialistische Aktivitäten« ins Visier der Staatsicherheit und man sucht nach Anlässen, ihn loszuwerden. Er wird von verschiedenen IMs aufgesucht, die ihn zu »antisozialistischen Aktionen« provozieren sollen. So halten sie einmal dem Pfarrer zwei Schachteln Zigaretten vor die Nase, eine westdeutsche und eine ostdeutsche Marke. »HB oder Casino?«, fragen sie ihn frech. Der Pfarrer denkt sich nichts dabei und greift zu HB, der westdeutschen Marke. Das wird zum Anlass genommen, ihm zu unterstellen, er würde »öffentlich« behaupten, die DDR-Qualität würde nicht der westdeutschen entsprechen. Ihm wird befohlen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Dorf zu verlassen. Die Kirchenleitung wird informiert und weiß Rat: Da das Pfarrhaus zum Hoheitsgebiet der Kirche gehört, soll der Pfarrer im Haus bleiben, bis eine Lösung gefunden wird.
Gerd und seine Freunde wissen nichts von dem Vorfall. Doch in der Gemeinde haben sie ein Zeichen vereinbart: Sollte sich, während die Landwirte draußen auf den Feldern arbeiten, im Dorf etwas Ungewöhnliches ereignen, würde jemand als Signal die Glocke läuten. An besagtem Tag ruft der Bürgermeister des Dorfes zu einer Veranstaltung in der Gaststätte auf, bei der öffentlich bekannt gegeben werden soll, warum der Pastor die Gemeinde zu verlassen hat. Kampfgruppen stehen einsatzbereit vor der Gaststätte und warten auf ihren Einsatz.
Als die Kirchenglocke läutet, eilen Gerd und seine Freunde ins Dorf und stellen sich vor den Pastor. Die Staatssicherheit entscheidet, dass ein Abführen des Pastors zu diesem Zeitpunkt für zu viel Aufsehen sorgen würde, und ruft die Kampfgruppen zurück. Der Pastor darf bleiben.
Gerd sagt, er kam mit der DDR nicht zurecht, »aber dass nun alles schlecht war, kann ich auch nicht sagen. Unfrei habe ich nur die Grenze empfunden.«
1989 bricht für die Familie eine besondere Zeit an. Freunde aus Leipzig berichten von den ersten Montagsdemonstrationen und den Vorkehrungen der Polizei für den Ernstfall: Ganze Turnhallen werden wie Lazarette ausgestattet. Gerd trifft in den kirchlichen Gesprächsrunden auf Menschen unterschiedlichster Kreise, die untereinander vernetzt sind. Sie berichten aus den Großstädten, darüber, wie sich dort Menschen in den Kirchen versammeln und friedlich für den Wandel beten.
Die Staatssicherheit observiert die Gemeindegruppe im Dorf. Die Zusammenkünfte finden nicht geheim statt und so schickt man ganz offiziell die ortsansässigen SED-Mitglieder zu einem Gemeindetreffen. An einem Abend stoßen so achtundzwanzig neue »Interessenten« dazu. Gerd und seine Freunde sind überfordert. Worüber reden wir jetzt? Das ist eine offensichtliche Bedrohung.
Der Pfarrer hat die zündende Idee: Wir gehen in die Kirche und singen Lieder! Und so stehen sie zu fünft in der ersten Reihe vor dem Altar und singen Jesus und Halleluja. Vor der Kirche haben sich inzwischen Kampfgruppen postiert und lassen keine weiteren Gemeindemitglieder hinein. Alle Zufahrtswege ins Dorf werden blockiert, die Leute drehen vor Angst wieder um. Eine aufgeladene Stimmung.
Was Gerd nicht weiß, ist, dass er an diesem Abend inhaftiert werden soll. Davon liest er später in seiner Stasi-Akte. Die Versammlung löst sich irgendwann friedlich auf; auf dem Weg nach Hause wird Gerd noch mehrmals von Polizisten angehalten und gefragt, was er am Abend »gemacht« hat. Erst spät erreicht er den Hof.
Michael ist zu klein, um an den Gesprächskreisen der Gemeinde teilzunehmen, aber er kann sich an die ersten Demonstrationen in der Kreisstadt erinnern, an denen er im Alter von elf Jahren mit seiner Familie teilnimmt und wo er seinen Vater in der Kirche Reden halten sieht. Ihm ist die Dimension dessen, was vor sich geht, nicht bewusst. In seiner Erinnerung bleiben die aufgeregte Stimmung und ein Protestplakat, das Honecker im Sträflingsanzug zeigt, und Demonstranten, die rufen: »Honecker in die Produktion!«
»Der sollte auch an die verlängerte Werkbank und mal sehen, was hier unten los ist. Wie sollst du denn einen Bagger reparieren, wenn es keine Batterien gibt, keine Ersatzteile?«, sagt Michael, als wäre er damals selbst davon betroffen gewesen.
Die unmittelbare Umbruchszeit 1989 und die Rede in der Kirche sind zu Gerds Verwunderung fast vollständig aus seiner Stasi-Akte verschwunden. »Ich hatte ja nichts Schlimmes getan, ich hatte meine Pflichten erfüllt, aber hatte nun zu diesen Pflichten eine andere Sicht.« Damals erhält er von einem Bekannten aus dem Kreisbetrieb für Landtechnik einen Hinweis, den Mund zu halten und seine Vorhaben erst einmal ruhen zu lassen. »In dem Moment wusste ich: Ich stehe auf einer Liste!« Gerd hält sich für eine Weile zurück und die Gefahr geht vorüber, er wird nicht inhaftiert.
Im Jahr der Wiedervereinigung befindet sich auch die LPG, bei der Gerd arbeitet, in Auflösung und die Familie erfährt, dass sie ihr Land zurückerhalten wird. Die LPG soll abgewickelt werden. Gerd fühlt sich für den Betrieb zuständig – soll er dagegen vorgehen? In dieser Phase spricht ein Bekannter ihn an und sagt: »Was machst du dir so ’n Kopp? Übernimm du doch die Kohlenlieferung, den Brennstoffhandel!«
Gerd nennt es im Nachhinein »Gottes Fügung«, dass genau dieser Bekannte zu dieser Zeit mit dieser Frage auf ihn zukommt. Kurzerhand legt er ein Datum fest: Am 1. Juli 1990 mache ich mich selbstständig. »Ich war vollkommen blauäugig«, sagt er. »Wir wussten ja nicht einmal, dass die D-Mark kommen würde … Wir haben alle viel Lehrgeld bezahlt in dieser Zeit.«
Denn das Problem ist nicht die praktische Arbeit oder der Wille, diese in die Tat umzusetzen: Es geht um Buchführung, Rechnungswesen, Anträge, Steuern. »Wer hatte zu DDR-Zeiten schon eine Gewinn- und Verlustrechnung? Es gab einen Plan und alle haben den Plan erfüllt. Jetzt war alles anders.«
Michael und sein vier Jahre älterer Bruder Jens helfen beim Aufbau des Brennstoffhandels kräftig mit. Fast jedes Wochenende renovieren sie und richten die Lagerstätten her. Oder es muss schon Ware ausgefahren werden.
Michael sieht Gerd in die Augen. »Die Arbeit begann nie erst um sieben Uhr und hörte auch nicht um sechzehn Uhr auf. So sind wir immer schon an die Arbeit und ein Stück weit auch an die Selbstständigkeit herangeführt worden.« Seine Mitschüler berichten von ihren ersten Urlauben in der Türkei oder Spanien, aber das Los des Unternehmertums lässt lange Abwesenheiten nicht zu. So machen Michael und Jens meist Urlaub bei der Westverwandtschaft, viele von ihnen kinderlos und gern bereit, sie aufzunehmen.
Michael fühlt sich trotz der umwälzenden Ereignisse in dieser Zeit nicht allein. Der engagierte Pastor ist den Kindern und Jugendlichen eine Stütze. Michael spielt Trompete in einer Bläserkapelle, sie fahren zu Kirchenfreizeiten und schließen Freundschaften, die oft bis heute Bestand haben.
Das mobile Bürotelefon, das auf dem Tisch liegt, klingelt laut. Michael nimmt ab, eine Lieferung. Er zieht entschuldigend die Schultern hoch, nickt uns zu und entfernt sich, um zu telefonieren.
Gerd erzählt einfach weiter. Berichtet, wie er seinem älteren Sohn Jens nach dem Abitur nahelegt, in den elterlichen Betrieb einzusteigen, »am besten als Buchhalter, der etwas von Wirtschaftsführung versteht«. Jens nimmt die Aufgabe an und zieht für eine Ausbildung zum Industriekaufmann nach Lüneburg. Aber die Arbeit ist ihm zu langweilig. Ohne seinen Eltern Bescheid zu geben, schmeißt er die Ausbildung hin, packt seine Sachen und zieht nach Berlin. Dort arbeiten schon Freunde auf der Großbaustelle am Potsdamer Platz. Er beginnt, Bauwesen zu studieren, und stellt seine Eltern vor vollendete Tatsachen.
Michael kommt zurück und fragt, worüber wir gerade gesprochen haben. Er berichtet, dass er nach dem Abitur eine Lehre als Heizungsbauer begonnen hat und heute froh ist, sich so früh für eine Ausbildung entschieden zu haben. Praxis ist für ihn besonders wichtig: »Heute bilden sie die Leute aus bis zum Gehtnichtmehr, Studium, Master, aber in der Praxis sind sie nicht zu gebrauchen.« Im Ausbildungsbetrieb lernt er die Seite der Arbeitnehmer kennen: Wie denken und reden seine Kollegen, wenn der Chef da ist – und wie reden sie, wenn er ihnen den Rücken zukehrt? Noch während seiner Ausbildung beginnt er ein Studium für Versorgungstechnik. Nach der anstrengenden Doppelbelastung will er erst einmal das Leben genießen. Er zieht nach Oxford in England, arbeitet dort in einem Pub an der Bar und genießt das unabhängige Leben. Nach einem Jahr hat er genug gefeiert und geht nach München, wo er eine Arbeit als technischer Objektleiter findet. Und dort lernt er seine zukünftige Frau kennen. Michael und seine Frau heiraten in der Prignitz, das erste Kind kündigt sich an.
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