Adriana Stern
Hannah und die Anderen
roman ariadne 4009
Argument Verlag
roman ariadne
Herausgegeben von Else Laudan
www.argument.de
Adriana Stern bei Ariadne:
Hannah und die Anderen (roman ariadne)
Pias Labyrinth (roman ariadne)
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2001
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Lektorat: Iris Konopik
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
unter Verwendung des Bildes Selbst unterm Sternenhimmel
(Kohle auf Acryl) von Ingrid Beckmann
Satz: Martin Grundmann
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-86754-994-3
Cover
Titel Adriana Stern Hannah und die Anderen roman ariadne 4009 Argument Verlag
Impressum roman ariadne Herausgegeben von Else Laudan www.argument.de Adriana Stern bei Ariadne: Hannah und die Anderen (roman ariadne) Pias Labyrinth (roman ariadne) Deutsche Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten © Argument Verlag 2001 Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020 www.argument.de Lektorat: Iris Konopik Umschlaggestaltung: Martin Grundmann unter Verwendung des Bildes Selbst unterm Sternenhimmel (Kohle auf Acryl) von Ingrid Beckmann Satz: Martin Grundmann E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017 ISBN 978-3-86754-994-3
Auf der Flucht
Zu Besuch bei Janne
Ein Märchen für Sascha
Ankunft vakat im Mädchenhaus
Ein Abend voller Fragen
Viele Rätsel und eine lange Nacht
Eine neue Welt für Hannah
Schritte ins Chaos
Hannah und die Anderen
Nächtlicher Hilferuf
Geschichten aus dem Tagebuch
Und vor uns liegt das Meer
Nachwort
Danksagung
Autorin
Auf der Flucht
1. Kapitel, in dem Hannah durch die Straßen irrt und jemanden mit merkwürdigen Meinungen kennen lernt
Sie sah auf die Telefonnummer, die sie mit kalten, klammen Fingern in ihren Händen hielt.
Sie zitterte am ganzen Körper. Vor Kälte? Oder aus Angst? Sie wusste es nicht. Verzweifelt wühlte sie in ihrem Kopf nach einem Sinn, weshalb sie jetzt hier in der Telefonzelle stand, um diese Nummer zu wählen.
Für einen Augenblick sprangen ihre Gedanken heraus aus der Enge der Zelle. Bilder vom Pausenhof ihrer Schule tauchten vor ihr auf. Wie sie dort saß – auf dem Holzrand des Sandkastens in der hinteren Ecke des Schulhofs – und die stellvertretende Klassenlehrerin, gleichzeitig Vertrauenslehrerin der Schule, vor ihr stand und auf sie herabsah.
Sie erinnerte sich noch genau an ihre Panik, während sie versuchte, nach außen ganz ruhig und gefasst zu wirken. Immer wieder die gleichen panischen Versuche einzuordnen, wie sie in eine bestimmte Situation geraten war. Immer wieder die gleichen Fragen, über die sie sich den Kopf zerbrach.
Was um Himmels willen ist geschehen?
»Hannelore, vielleicht möchtest du ein paar Broschüren mitnehmen?« Ein auffordernder Blick – vielleicht war er auch ermutigend gemeint – traf Hannah, und gegen die innere, ihr schon vertraute wilde Verzweiflung ankämpfend sah sie der Lehrerin voll ins Gesicht.
»Wirklich, Frau Liesban. Es ist nichts. Es ist … es ist alles in Ordnung. Ich … ich komme ganz gut klar. Ehrlich. Es besteht bestimmt kein Grund zur Besorgnis.«
Trotzdem hatte Hannah dann einen Stapel Broschüren in ihrem Rucksack verstaut. Wohl eher, damit Frau Liesban sie mit weiteren Fragen verschonte, auf die Hannah sowieso keine Antwort gewusst hätte.
Zu Hause hatte sie die Telefonnummern mehrerer Mädchenhäuser auf einen Zettel geschrieben und den Zettel in ihrem Portemonnaie verstaut. Vorsichtshalber, hatte sie gedacht, ein wenig erstaunt über ihr Handeln zwar, aber na ja. Sie verstand halt nicht immer, was sie tat und warum.
Und hier stand sie nun. In irgendeiner Telefonzelle, hundertfünfzig Kilometer von zu Hause entfernt. Mit dem Rest des Zettels in der Hand, auf dem nur noch die Nummer des Mädchenhauses dieser Stadt übrig geblieben war. Die anderen Nummern hatte sie abgerissen und in einem Gully versenkt.
Sie sah sich die Nummer an. Eine einfache, eine völlig harmlose Telefonnummer. Trotzdem spürte sie ihren Puls rasen wie nach einem Tausend-Meter-Lauf.
Oh Gott, was tue ich hier nur? Verzweifelt sah sie durch das regennasse Zellenglas in das unergründliche Dunkel draußen.
Die kennen mich doch gar nicht. Die werden mich einfach für verrückt erklären.
»Du willst doch immer nur im Mittelpunkt stehen. Hör auf, dir ständig diese abgedrehten Geschichten auszudenken und damit alle Leute verrückt zu machen, die mit Sicherheit Besseres zu tun haben, als sich mit deinen Hirngespinsten zu befassen«, hörte sie die warnende Stimme der Mutter in ihrem Kopf und ließ mutlos die Hand mit dem Hörer sinken.
Wer weiß, vielleicht hatte die Mutter ja Recht. Was konnte sie, Hannah, denen vom Mädchenhaus schon erzählen? Ja, was eigentlich? Erneut stieg Panik in ihr auf, und ein abgrundtiefes Gefühl von Sinnlosigkeit sprang sie aus dem Dunkel der Großstadt an.
»Trotzdem. Ich kann nicht zurück. Ich habe keine andere Wahl«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Ich muss es einfach tun. Ich muss. Seit Tagen denke ich an nichts anderes mehr. Schließlich bin ich doch abgehauen von zu Hause! Ich habe es doch tagelang geplant. Nachdem …« Hannah schrie erschrocken auf.
Nein, nein, ich will das gar nicht wissen. Nein, ich … ich kann das nicht. Ich will das nicht. »Verdammt, Hannah, jetzt reiß dich endlich zusammen«, sagte sie schließlich wütend.
Sie nahm den Telefonhörer wieder fest in die Hand. Hielt ihn an ihr Ohr. Sah sich die Nummer auf dem zerrissenen Zettel an und wählte sie langsam und konzentriert Ziffer für Ziffer.
Sie hörte das Klingelzeichen. Einmal, zweimal – es würde niemand rangehen, es würde niemand da sein. Immer war es so. Niemand erreichbar …
Sie hörte, wie der Anrufbeantworter sich einschaltete und eine Frauenstimme sagte: »Hallo. Du bist verbunden mit dem Notruf für Mädchen. Im Moment können wir leider nicht ans Telefon gehen. Du kannst es in einer halben Stunde noch einmal versuchen. Nach dem Signalton besteht auch die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen. Wir rufen zurück, sobald der AB abgehört wird.«
Sie hörte die Pause, dann den Signalton, dann nichts mehr.
Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Sie hatte plötzlich wieder Angst vor ihrer eigenen Stimme. Auch das kannte sie schon. Diese Angst, die Kontrolle zu verlieren …
Sie sah den Regen draußen an der Scheibe hinunterlaufen. Sie hörte das Schlagen der Elternhaustür in ihrem Kopf. Wie einen Pistolenschuss. Dann Leere.
Ich muss etwas sagen, dachte sie verzweifelt. Das Band würde zu Ende sein, bevor sie etwas gesagt hätte. Und dann? Sie würde die Nummer verlieren. Sie wusste, sie konnte nicht mehr nach Hause zurück. Es war unmöglich. Unmöglich.
»Hallo«, hörte sie sich sagen und erschrak tatsächlich vor ihrer Stimme. »Ich brauche Hilfe, ich weiß nicht, wohin, ich … man kann mich nicht anrufen. Ich bin in einer Telefonzelle, ich habe keine Uhr. Eine halbe Stunde, ich weiß nicht, wie lange das ist. Ich habe kein Geld, ich weiß nicht …«
Das Band brach ab und sie ließ den Hörer fallen. Ihr wurde schwarz vor Augen und die Umgebung verschwamm mehr und mehr vor ihrem Blick. Sie taumelte innerlich zurück. Immer weiter und weiter und weiter.
Etwas benommen versuchte ein Junge, sich zu orientieren.
Aha, kombinierte er. Telefonzelle! Großstadt! Sehr gut!
Er sah den Hörer am Kabel gleichmäßig hin und her schwingen. Ein Telefongespräch hatte wohl nicht stattgefunden, sonst stünde er nicht hier.
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