Ja, jedenfalls war er kurz nach ihrem 15. Geburtstag gewesen, dieser Besuch beim Jugendamt, an den sie sich nicht wirklich erinnern konnte. Nur an dieses peinliche Ende, wo sie am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Aber ihr Tagebuch erzählte mehr davon, was beim Jugendamt Thema gewesen war. Sie hatte es eingesteckt, gestern Morgen, zu dem anderen Fluchtgepäck. Ein komisches Tagebuch. Beim Lesen übersprang sie oft ganze Seiten. So auch jene Seiten, die angefangen hatten mit: »Heute Nachmittag war ich beim Jugendamt …«
In diesem Tagebuch gab es so viele Sätze, mit denen Hannah nichts anfangen konnte. In einer steilen, nach links geneigten schmalen Schrift, die ihr fremd erschien, die sie aber auch aus ihren Deutschaufsätzen kannte. Und in anderen Schriften, manchmal sogar in anderen Farben. Bunt und verwirrend insgesamt. Hannah wollte nicht darüber nachdenken. Nein, lieber nicht.
Nun ja, sann sie. Die anderen in der Klasse hatten wahrscheinlich Recht. Sie war anders. Seltsam. Leicht bis mittelschwer durchgeknallt. Verhaltensgestört, wie ihr Onkel meinte, der Kinder- und Jugendtherapeut war und so was dann ja wohl beurteilen konnte.
Und obwohl Hannah eigentlich nichts mehr von ihrem Besuch beim Jugendamt wusste, war sie sich sicher gewesen, dort nichts erzählt zu haben. Was auch? Es gab ja wohl nichts, was einer Dame vom Jugendamt irgendwie gefährlich vorkommen konnte.
Und dann war die Dame vom Jugendamt zu einem Hausbesuch gekommen, weil sie den Bericht der Jugendlichen besorgniserregend gefunden hatte, wie sie sagte. Hannah wäre damals erneut am liebsten im Erdboden verschwunden.
Zwei Wochen war das jetzt her. Zwei Wochen, die ihr erschienen waren wie eine Ewigkeit. Während sie weitergrübelte, nahm sie ihren Weg durch die Straßen der Stadt wieder auf.
»Ja, ja, meine Tochter hatte schon immer ein bisschen zu viel Phantasie. Sie will etwas Besonderes sein und ständig im Mittelpunkt stehen. Ihr Onkel schenkt ihr, glaube ich, einfach zu viele Kriminalgeschichten.«
Die Frau vom Jugendamt hörte geduldig zu. Weder sie noch ihre Mutter schienen die Anwesenheit der Tochter überhaupt zu bemerken. Auch wenn die Frau vom Jugendamt ab und zu verwunderte Blicke in ihre Richtung warf.
Aber Hannah blieb stumm wie ein Fisch. Ja, genau so fühlte sie sich. Wie ein Fisch hinter einem dicken Panzerglas, der nicht sprechen kann und den sowieso niemand hören könnte, selbst wenn er Worte finden sollte. Das Wasser war viel zu tief …
»Hannelore, würdest du Frau Krebs und mir noch einen Kaffe kochen«, wandte sich die Mutter an sie, die jetzt wohl die wohlerzogene Tochter spielen sollte. Daran sollte es nicht scheitern! Sie war sofort aus dem Wohnzimmer und in die Küche gestürzt.
Eine ihr völlig unvertraute Wut hatte sie plötzlich gepackt und sie versuchte erschrocken, sich wieder in den Griff zu bekommen. Stattdessen verbrühte sie sich beim Kaffeekochen die rechte Hand.
Die Mutter sah es, als sie eine viertel Stunde später den Kaffee in die kleinen goldumrandeten Kaffeetassen goss, und zeigte der Frau vom Jugendamt die Verbrennung. »Da sehen Sie selbst. Meine Tochter fügt sich alle ihre Wunden selbst zu. Sie ist einfach ungeschickt und sie wollte schon immer von zu Hause weg.«
Dann sah die Mutter Hannah an. »Nicht wahr, Hannelore? Dein Elternhaus ist dir nicht gut genug. Du denkst, du hast was Besseres verdient. Aber glaube mir, du kannst froh sein, keine Eltern zu haben, die dich schlagen und zu Hause einsperren. Was man da heutzutage alles in der Zeitung liest. – Möchten Sie noch einen Kaffee?«, fragte die Mutter freundlich und wandte sich wieder der Frau vom Jugendamt zu.
»Ach, nein danke«, antwortete die Frau, und zu Hannah gewandt: »Ich habe gehört, du hast Schwierigkeiten in der Schule? Du hast in der letzten Zeit häufiger den Unterricht geschwänzt und mit deinem Fahrrad schon mehrere Unfälle verursacht. Woran liegt denn das, Hannelore? Was ist los mit dir?« Erwartungsvoll sah sie Hannah an.
In Hannahs Kopf formten sich Worte, Sätze, Gedankenfetzen. Eine wilde Verzweiflung und der Wunsch laut zu schreien und der Mutter zu widersprechen. Aber nichts von alldem konnte die dicke Panzerglasscheibe durchbrechen, und wie von einem anderen Planeten aus sah Hannah der Frau vom Jugendamt ins Gesicht.
»Stimmt das? Du bist ohne Führerschein mit dem Klasse-1-Motorrad deines Bruders durch die Gegend gefahren? Warum, Hannelore?« Die Frau beugte sich zu ihr vor. Sie sah verwirrt und ein wenig beunruhigt aus.
»Willst du jetzt nicht mehr mit mir reden?«, fragte sie dann und musterte Hannah aufmerksam.
Hannah schüttelte stumm den Kopf. Sie hörte einen lauten Knall, mit dem sich ein Sargdeckel über ihr schloss.
Von sehr weit weg sah sie noch, wie sich die Mutter und die Frau freundlich voneinander verabschiedeten und die Mutter der Sozialarbeiterin für ihre Bemühungen dankte und sich gleichzeitig dafür entschuldigte, dass sie wegen Hannah so viel unnötige Arbeit gehabt habe.
Wie gesagt. Das war kurz nach ihrem 15. Geburtstag passiert. Mehr fiel ihr nicht ein.
Ich muss sofort etwas essen, dachte Hannah unvermittelt. Ich verhungere sonst noch mitten auf dieser elenden Straße. Und zwar noch heute Nacht, wenn ich nicht vorher erfroren bin.
Im gleichen Augenblick erregte ein Laden an der Ecke Hannahs Aufmerksamkeit. Es war eine Buchhandlung mit vielen Plakaten an den Schaufenstern. Da war sie wieder, diese Telefonnummer.
Komisch, dachte sie, während sie in ihrer Jackentasche und dann noch mal in ihren Jeanstaschen kramte, ich hab die Nummer echt in der Zelle liegen lassen.
Sie sah sich das Plakat genau an. Ja, da stand es. Genau so, wie es die Mutter von Stephanie ihr erzählt hatte. In großen bunten Buchstaben stand es dort auf dem Plakat.
Hallo!
Willst du weg von zu Hause? Hältst du es dort nicht mehr aus? Suchst du einen Raum, in dem du sicher bist und dir jemand zuhört? Wo du in Ruhe darüber nachdenken kannst, was du selber willst? Und wo du über deine Sorgen reden kannst? Weißt du nicht mehr wohin? Hast du Angst und brauchst Hilfe? Einen Schlafplatz, etwas zu essen? Dann ruf uns an. Wir sind Frauen, die Mädchen in Notlagen unterstützen. Wir beraten dich, und wenn du willst, dann kannst du auch eine Zeit lang bei uns wohnen, bis du für dich eine Lösung gefunden hast.
Mädchenhaus
Die Telefonnummer wurde dann noch einmal in großen roten Zahlen wiederholt. Hannah fand nichts zu schreiben. Na ja, dachte sie, ich habe sowieso kein Geld mehr. Die Telefonkarte hatte sie auch in der Zelle vergessen. Verzweiflung stieg langsam in ihr auf und sie spürte den Kloß im Hals so deutlich, dass sie glaubte, daran zu ersticken.
Die Tür des Ladens öffnete sich und Hannah trat erschrocken einen Schritt zur Seite. »Tschüß, Janne, dann bis übermorgen«, hörte sie eine Frauenstimme direkt vor sich und ehe sie richtig mitbekam, was geschah, lag sie schon auf dem Boden.
»Oh Scheiße, das tut mir Leid, ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Hast du dir wehgetan?« Ein besorgtes Gesicht beugte sich über sie. »Komm, ich helfe dir aufstehen«, sagte die Stimme, und eine Hand wurde ihr entgegengestreckt.
»Geht schon«, murmelte Hannah ohne aufzublicken.
»Mensch, du bist ja total nass«, sagte die Frau. »Willst du nicht einen Moment reinkommen?«
Hannah nickte. Ihr fiel sowieso nichts Besseres ein, außerdem spürte sie plötzlich, dass ihr Knie wehtat und ihr bei dem Sturz offensichtlich doch etwas passiert war.
»Hey«, hörte sie eine andere Stimme, die von Janne, wie sie später erfuhr, »ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so schnell wiedersehe.« Und dann, nach einer Pause: »Was ist denn passiert?«
»Ich habe vor der Tür ein Mädchen umgerannt. Ich glaube, sie hat sich verletzt«, antwortete die Frau. »Ich heiße übrigens Marissa, es tut mir echt Leid. Kann ich irgendwas tun? Setz dich doch erst mal. Dein Knie blutet ja. Scheiße«, sagte sie noch einmal, und Hannah setzte sich auf den angebotenen Stuhl.
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