„Wann genau kommst du wieder?“, fragte er. „Ich weiß es nicht genau“, sagte ich ehrlich, „aber wir werden uns einigen, du musst hier nicht sofort raus.“ „Ach“, sagte er grinsend und begann mit seinen schlanken Fingern Kreise auf meinen Rücken zu zeichnen, „wenn ich es mir recht überlege, würden wir es wohl sogar eine Zeitlang zusammen hier aushalten.“ Ich antwortete nicht.
In der nächsten Stunde machte ich mir wenig Gedanken über meine Zukunft, sondern schaffte es endlich einmal wieder, mich, meine wirren Gefühle und die Welt zu vergessen.
Die Zeit schien zu rasen. Ich überlebte die Weihnachtstage wie immer, verbrachte viel Zeit mit Mara, die mich nach wie vor von Zeit zu Zeit nach meinem Geisteszustand befragte, aber ansonsten, wie gewohnt in allen Dingen voll hinter mir stand. Ich ging mit auf die angekündigte Silvesterparty der Greenpeace Leute und hatte sogar ein wenig Spaß. Ich kümmerte mich um die Übergabe meiner Unterlagen im Büro und mietete einen kleinen Lagerraum, in dem ich meine persönlichen Dinge aus der Wohnung unterbringen wollte. Durch all die hektische Aktivität kam ich kaum zum Nachdenken und wenn ich doch einmal in die Verlegenheit kam, lenkte ich mich rasch ab. An jenem grauen Dezembernachmittag hatte ich eine Entscheidung getroffen und entgegen meines sonstigen Verhaltens und meiner sonstigen Lebensweise, stand ich zu dieser Entscheidung und fühlte mich eigenartigerweise erstaunlich gut damit. Eigentlich, wenn ich intensiv darüber nachdachte, konnte ich mich kaum an eine Zeit erinnern, in der ich mich so klar, so geerdet und so sicher gefühlt hatte. Das Amulett war mittlerweile ständig warm und wenn ich es berührte, durchfuhr mich häufig eine Welle von Geborgenheit und Glück.
Ich stellte den gepackten Rucksack aufs Bett, zündete eine Zigarette an und sagte laut: „Fertig!“ Was nahm man mit auf eine Reise, die man eigentlich gar nicht machen konnte? Ich hatte mich für Zigaretten, ein wenig Kleidung, ein Bild meiner Eltern und einige andere mehr oder weniger wichtige Dinge entschieden. In das obere Fach des Rucksacks stopfte ich jede Menge Schmerztabletten und ein paar Pflaster und Kondome. Man konnte ja nie wissen…. Es klingelte an der Tür. Es war Mara. Die Schwangerschaft stand ihr gut, die Übelkeitsattacken hatten endlich nachgelassen und ihr Gesicht strahlte eine wunderschöne Gelassenheit aus, die fast überirdisch wirkte. Ihr Bauch war bereits deutlich gerundet und sie hatte eigentlich ständig Hunger.
„Hallo meine Liebe“, sagte sie und drückte mich fest an sich. „Nun ist es also soweit“, murmelte sie, es klang fast wie eine Frage. „Eigentlich muss ich mich nicht von dir verabschieden“, fuhr sie dann leise fort. „Wir waren uns ja einig, dass sich das alles morgen in eine Illusion auflöst und du abends bei mir vor der Tür stehst.“ Sie schluckte hart. Ihr Lächeln wirkte gequält. „Aber nur für den Fall, dass du tatsächlich dahin gehst…“, sie stockte und drückte mir ein Päckchen in die Hand. „Mach es auf, wenn du da bist, okay?“, flüstere sie und drückte mich noch einmal an sich.
Wir versuchten, einen netten Nachmittag miteinander zu verbringen, merkten aber beide, dass wir unglaublich verkrampft waren. Unser Lachen war zu laut und die Gespräche zu platt, es war nichts von dem, was unsere Freundschaft eigentlich ausmachte.
Irgendwann stand Mara auf, drückte mich noch einmal fest an sich und sagte dann fast hastig: „Ich gehe jetzt, ich hab dich lieb. Ich bin immer für dich da, vergiss das nicht.“
Dann ging sie. Ich wusste, dass sie Abschiede hasste, aber kaum war die Tür hinter ihr zugeschlagen, hatte ich das Gefühl, dass ich ihr noch hundert Sachen sagen musste.
Ich ließ mich hinter der Tür auf den Fußboden gleiten und starrte ins Leere.
In dieser Nacht schlief ich kaum. Immer wieder ging ich durch meine Wohnung, die nun, da meine privaten Dinge ausgelagert werden, seltsam fremd und steril war. Ich stand am Fenster und starrte auf die Häuserzeile und nahm Abschied von jeder noch so kleinen Nebensächlichkeit, wie dem leisen Brummen der Heizung und der flackernden Leuchtreklame der Videothek gegenüber. Ich war melancholisch, aber merkwürdigerweise nicht wirklich traurig. Wenn es nach Mara ginge, war dies ohnehin nur eine Farce und morgen Abend würde ich zwar wohnungs- und arbeitslos bei ihr vor der Tür stehen, aber immer noch mit beiden Füßen in dieser Welt sein. Ich wusste nicht, ob ich darauf hoffen sollte.
Vielleicht hatte ich auch einfach schon zu viel verloren, um noch an irgendetwas festzuhalten und zu hängen. Ich versuchte, meine düsteren Gedanken zu unterbrechen und dachte an die kleinen Hütten, an die Wiesen im Sonnenschein, an das Meer, das an den Strand spülte und an das wunderbare Gefühl von Heimat, das ich an diesem fremden Ort erlebt hatte. Ich sah Faolane vor mir und ihre bernsteinfarbenen Augen schauten mir direkt ins Herz. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich endlich ein.
Der Wind heulte um das Haus und der Regen prasselte gegen die Scheibe, als ich erwachte. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um mir zu zeigen, dass dies eindeutig ein sehr schlechter Tag für einen Waldspaziergang war. Aber bis heute Abend war noch etwas Zeit und vielleicht schlug das Wetter ja noch um. Ich hatte mich entschieden, auf die Dämmerung zu warten, auch wenn ich eigentlich kaum noch stillsitzen konnte. Laut meinem Kalender war heute Vollmond, allerdings würde ich wohl kaum etwas davon mitbekommen, da er sich hinter dicken Wolken verbergen würde. „Ob das entscheidend für das Gelingen der Reise ist?“, fragte ich mich laut. Der Tag zog sich quälend langsam dahin. Zum wiederholten Male begutachtete ich den Inhalt meines Rucksackes und stellte zum tausendsten Mal fest, dass ich in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was ich brauchen würde und ob ich überhaupt irgendwas brauchen würde. Am Nachmittag nahm ich eine lange, heiße Dusche. Mit geschlossenen Augen stand ich einfach da und ließ mir das heiße Wasser auf den Körper rieseln. Wie tausend kleine Nadelstiche traf es auf meine Haut und ich genoss die Hitze und den Dampf. Wie lange würde es dauern, bis ich wieder in den Genuss einer heißen Dusche kommen würde? Ich unterbrach diesen Gedanken abrupt. Ich schlüpfte in eine bequeme Jeans und zog einen dicken braunen Wollpullover an. Dazu trug ich meine neuen bequemen Wanderschuhe. Dann griff ich nach meiner Winterjacke, wickelte mir einen Schal um den Hals und schulterte meinen Rucksack. Einen Moment lang hielt ich vor dem Spiegel inne und betrachtete mich wie eine Fremde. Mein Gesicht war leichenblass, meine Augen leuchteten fast unnatürlich. Ich spürte das warme Pulsieren des Amuletts auf meiner Haut, fast wie einen Herzschlag.
Entschlossen wischte ich mir eine verräterische Träne aus den Augen, trat in den Flur und warf die Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter mir zu. „Jetzt nur nicht mehr nachdenken“, sagte ich laut.
Die Fahrt zum Wald erlebte ich wie in Trance. Wie damals parkte ich mein Auto auf dem Parkplatz. Er war leer. Mittlerweile war die Dämmerung heraufgezogen. Es war dieses seltsame Licht zwischen Tag und Nacht, das die Umrisse der Bäume verschwimmen ließ und meine Phantasie begann, Kapriolen zu schlagen. Hatte sich da nicht irgendetwas bewegt, war da nicht ein Schatten hinter dem Farn gewesen? Mühsam stapfte ich weiter. Der Rucksack war höllisch schwer. Ich hatte beschlossen, es an derselben Stelle zu versuchen, an der ich damals unfreiwillig meine Reise angetreten hatte. Kälte kroch unter meine Jacke. Mittlerweile war das graue Zwielicht von der Dunkelheit fast verschluckt worden. Wolkenfetzen zogen schnell am Himmel entlang. Der Regen hatte aufgehört, aber der Mond war nicht zu sehen. Der Wind fuhr durch die kahlen Bäume, deren Äste knackten und ächzten. Das alte Herbstlaub wurde zu meinen Füßen umher gewirbelt und raschelte. Meine Zähne klapperten laut. Ich stolperte zum wiederholten Male und verfluchte zum hundertsten Mal den viel zu schweren Rucksack. Was, wenn ich die Stelle nicht fand? Würde ich mich im Dunkeln im Wald verlaufen und am Ende jämmerlich erfrieren? Ich kämpfte die aufkommende Panik nieder und versuchte mich auf das Amulett und seine Wärme zu konzentrieren. Der Weg vor mir war nicht mehr zu erkennen und ich hatte ohnehin die Orientierung fast verloren. Nur noch Glück konnte mich jetzt zu der Stelle zurückführen, an der ich damals den Weg nach Salandor gefunden hatte. Etwas streifte mein Bein und ich quietschte laut auf. Ein Nachtvogel schrie und etwas raschelte neben mir im Gebüsch.
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