1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Irgendwann knurrte mein Magen sehr laut und vernehmlich. Da ich im Grunde ein sehr praktisch veranlagter Mensch und in jeder Situation und zu jeder beliebigen Tag und Nachtzeit hungrig war und essen konnte, erhob ich mich schließlich schwerfällig und schlurfte in die Küche. Ich konnte mich nicht erinnern, je in meinem Leben so ausgehungert gewesen zu sein. Ich schlang in kurzer Zeit mehrere dick belegte Brote, einen großen Vanille Pudding und eine halbe Tafel Schokolade in mich hinein und spülte das Ganze mit einem großen Glas Apfelschorle hinunter.
Danach begann ich, mich wieder einigermaßen lebendig und menschlich zu fühlen. „Nun noch eine heiße Dusche und ich bin zumindest halbwegs wieder hergestellt“, sagte ich laut zu mir. Meine Stimme klang eigenartig dünn und zittrig, aber um mir selber Mut zu machen, begann ich falsch und laut „Yellow Submarine“ vor mich hin zu singen. Ich stellte mit etwas eckigen Bewegungen das dreckige Geschirr in die Spüle und schlurfte ins Bad. Meine dreckigen Füße hatten mittlerweile hübsche Abdrücke auf den hellen Fliesen in der Küche hinterlassen.
Der Blick in den Spiegel versetzte mir abermals einen Schrecken. Mein Gesicht war voller Dreck und Kratzer, in meinen Haaren hingen vereinzelte Blätter und ich zog einen kleinen Zweig heraus.
Meine manikürten Fingernägel waren teilweise eingerissen und meine Hände völlig verdreckt, als hätte ich mit bloßen Händen Grabungsarbeiten durchführt. Wieder fuhr ich mir nervös mit den Händen durchs Gesicht und hinterließ einen weiteren braunen Streifen quer über der Nase. „Sehr schön, Lana“, sagte ich und grinste mein Spiegelbild probehalber an. Das Grinsen war ein wenig schief und gelang mir nicht wirklich. Aus dem Spiegel blickte mich eine reichlich übernächtigte, sehr dreckige Frau mit einem grenzdebilen Gesichtsausdruck an. Ich löste den Gürtel und ließ das eigenartige Gewand zu Boden gleiten. Dann hob ich meine Haare im Nacken und löste den Knoten des Lederbandes. Das Amulett legte ich auf den Rand des Waschbeckens. Ich trat unter die Dusche und drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser kam, wie immer, erst einmal kalt aus dem Hahn und ich quietschte und trat einen Schritt zurück.
Plötzlich überfiel mich ein eigenartiges Gefühl. Erst spürte ich etwas, das sich wie eine große Leere anfühlte. Ich fühlte mich selber nicht mehr, stand neben mir und agierte wie eine ferngesteuerte Marionette. Dann setzte Panik ein, ich hatte Mühe Luft zu holen, ich hatte das Gefühl, ein großes, schweres Ding saß auf meiner Brust. Mein Atem ging stoßweise und kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Flecken tanzten vor meinen Augen. Ein Dröhnen und Drängen in meinem Kopf raubte mir fast den Verstand. Fahrig suchte ich Halt, fand aber keinen und riss fast den Duschvorhang herunter. Hastig kletterte ich wieder aus der Dusche und ging, taumelnd wie ein Schlafwandler, auf das Waschbecken zu. Meine Hand griff wie ferngesteuert nach dem Amulett. Meine Finger umkrallten die kleine Scheibe und ich presste das Schmuckstück an mich. Die Welt um mich drehte sich wie ein Karussell.
Mit zitternden Händen verknotete ich das Band wieder um meinen Hals. Der Spuk war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Ich konnte wieder frei atmen und meine Hände hörten auf zu zittern. Fast dankbar fühlte ich den Schmerz, als das nun heiße Wasser wie tausend kleine Nadelstiche auf meine Haut traf.
Ich duschte lange, wusch mir gründlich die Haare und massierte meine verspannten Muskeln an den Beinen. Das heiße Wasser und der aufsteigende Dampf beruhigten nach und nach meine überreizten Nerven.
Irgendwann viel später saß ich in ein warmes Handtuch gehüllt auf meinem Bett und dachte nach. Ich hatte entschieden zu viele Zigaretten geraucht, aber mein Zustand war wenigstens wieder als halbwegs normal zu bezeichnen. Wie zur Sicherheit fuhr meine Hand wieder zu dem Amulett an meinem Hals.
Es war mittlerweile nach Mitternacht, der Regen prasselte gegen die Scheibe, eigentlich würde in gut sechs Stunden mein Wecker klingeln und ich müsste aufstehen, um zur Arbeit zu fahren. Daran war nicht zu denken, das hatte ich mittlerweile entschieden. Ich musste mich krank melden. Ich brauchte einfach Zeit um nachzudenken, um zu schlafen, wenn ich denn irgendwann konnte und meine wirren Gedanken und Erinnerungen zu ordnen.
Das, was ich als vermeintlichen Tagtraum abtun wollte, war irgendwie Teil meiner Realität geworden, war irgendwie und irgendwo tatsächlich passiert, das musste ich mir nun eingestehen.
Wenn ich noch letzte Zweifel gehabt hatte, so waren sie durch das Amulett und seine Wirkung endgültig aufgehoben. Ich hatte zunächst darüber nachgedacht, noch einmal zu versuchen, das Amulett abzulegen, aber schon der Gedanke an die Situation im Bad ließ mich frösteln. Wie zur Sicherheit fuhr meine Hand wieder an meinen Hals, der Schmuck fühlte sich warm an und es beruhigte mich, ihn zu berühren. Die kleine Platte war aus Bronze und fast kreisrund. Auf der Oberfläche war ein Muster aus in sich verschlungenen Linien eingeprägt, die mich entfernt an einen endlosen Knoten erinnerten. Ineinander verschlungen, ergaben die Linien ein Viereck mit abgerundeten Ecken. Die Ecken wiederum waren untereinander ebenfalls durch feine Striche verbunden, die mich entfernt an eine Acht oder das mathematische Symbol für Unendlichkeit erinnerten. Ich hatte dieses Symbol noch nie zuvor gesehen und doch kam es mir seltsam vertraut vor. Ich ließ mich zurück fallen und die Bilder vom Strand zogen wieder vor meinem inneren Auge auf. Die Fackeln, die in den Sand gesteckt worden waren und den Strand in ein mystisches Licht tauchten. Das Meer, das leise rauschend und in ewiger Wiederkehr an die Küste spülte und sich weiter draußen in gewaltigen Wogen an felsigen Riffs brach. Ich konnte wieder den Rhythmus der Trommeln hören und die Stimmen der Sänger, die in einer mir vollkommen unbekannten Sprache sangen. Soviel Wärme, Sehnsucht und Leidenschaft hatte ich bisher nie gehört und gefühlt, obwohl ich kein Wort von dem verstanden hatte, was sie sangen. Ich sah die Tänzer wieder vor mir, roch den Geruch von gebratenem Fisch und sah Faolanes goldene Augen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, wollte sie berühren. Ich hatte das Gefühl, dass ich dann endlich zur Ruhe finden könnte, nach Hause kommen würde. Ich rief ihren Namen und griff ins Leere. Danach umgab mich nur noch Stille und ich fiel ins Bodenlose.
Am Morgen riss mich das Klingeln des Weckers unsanft auf meinem tiefen, fast komatösen Schlaf.
Völlig verwirrt richtete ich mich auf und brauchte zunächst einige Sekunden, um zu realisieren, wo ich war. Langsam begann mein Gehirn zu arbeiten. Wie automatisch fuhr ich mit der Hand zu meinem Hals und meine Finger umfassten sanft das Amulett. Das mir nun schon bekannte, beruhigende Gefühl und eine wohlige Wärme durchfuhren mich und ich fühlte mich zumindest soweit wieder hergestellt, dass ich es schaffte aus dem Bett aufzustehen und zum Telefon zu schlurfen. Ich musste meinem Kollegen Bescheid sagen, dass ich ein, vielleicht besser zwei Tage zu Hause bleiben würde.
Ben meldete sich und ich war fast erschrocken über den Klang meiner eigenen Stimme, die rau und kratzig klang. Ich murmelte etwas von total erkältet und Ben sicherte mir zu, in der Personalabteilung Bescheid zu sagen. Damit war das Gespräch beendet, das Display zeigte an, dass es keine zwei Minuten gedauert hatte.
Wir waren seit einem halben Jahr Kollegen, mochten uns aber nicht sonderlich. Die große Versicherung, in der ich arbeitete, hatte umstrukturiert und statt mit der netten und fröhlichen Karin teilte ich nun mit Ben das Büro. Er war meist muffelig, hatte ständig schlechte Laune und war dabei auch noch zänkisch, wie ein altes Waschweib. Eigentlich hatte mir meine Arbeit immer einigermaßen Spaß gemacht, aber in den letzten Monaten hatte mich nur noch der Gedanke an die wirklich gute Bezahlung ein wenig motivieren können. Wie es weitergehen sollte, wusste ich nicht. Für eine Kündigung fehlte mir der Mut und ich hatte keine Lust auf einen anstrengenden Bewerbungsprozess, Probezeit und neue Kollegen. Ich hatte aber auch keine Lust auf Ben. So verharrte ich einfach da, wo ich war, versuchte es mir erträglich zu machen und verbot mir energisch jeden Gedanken an die Zukunft.
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