Ich betrachtete mein Bild in dem großen Spiegel im Flur und fragte mich, warum ich mir gerade jetzt Gedanken darüber machte. Bisher hatte ich es immer geschafft nicht viel über mein Leben und meine Ziele nachzudenken. Ich hatte Ziele gehabt, Träume, Pläne, aber irgendwie waren sie mit der Trennung von Arndt gestorben. Vielleicht auch schon viel früher, ohne, dass ich es wirklich realisiert und bemerkt hätte.
Ob ich glücklich war oder nicht, hatte ich mich lange nicht mehr ernsthaft gefragt. Eine Antwort darauf hätte ich ohnehin nicht gefunden. Große Emotionen, Gedanken, Träume und Gefühle erlaubte ich mir schon lange nicht mehr. Ich hatte beschlossen, dass sie mir nicht gut taten und ich sie auch nicht brauchte. Damit ging es mir eigentlich gut, oder zumindest fühlte ich mich okay. Probehalber lächelte ich meinem Spiegelbild zu.
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und starrte weiter in den Spiegel. Die Frau, die ich sah, war groß, sehr schlank, fast ein wenig zu dünn und hatte lange blonde Haare und große blaue Augen, um die heute dunkle Schatten lagen. „Für fast dreißig ganz gut gehalten“, unkte ich und grinste schief in den Spiegel. Mein Spiegelbild zog eine Grimasse.
Ich ging in die Küche, um Kaffee zu kochen, danach würde ich den Tag mit Wolldecke und Schokoladenkeksen vor dem Fernseher verbringen. „Das bringt dich auf andere Gedanken und morgen ist alles wieder im Lot“, sagte ich zu mir selber. „Du bist nur müde und erschöpft, wenn du ausgeruht bist, sieht die Welt wieder ganz anders aus.“ Das Telefon klingelte. Ich zuckte zusammen. Mara wartete kaum ab, dass ich mich gemeldet hatte, sondern plapperte sofort los.
Sie hätte gestern mehrfach versucht, mich zu erreichen, sie hätte auf den Anrufbeantworter gesprochen, auf dem Handy hätte sie mich auch nicht erreicht. Wo ich, um Himmelswillen, gewesen bin, wollte sie wissen und außerdem hätte sie sich ernsthaft Sorgen gemacht. Ich musste lachen, Mara war unglaublich. Nach unserem frostigen Abschied am Samstag hätte manch anderer distanziert oder abwartend reagiert. Nicht so Mara. Ich war mit einem Mal unglaublich froh, dass es sie gab und wunderte mich gleichzeitig, woher all die großen Emotionen kamen, die mich seit gestern ständig überraschten. Ich wollte gerade ansetzten zu erzählen, dann stockte ich und hielt inne. Was sollte ich Mara erzählen? Dass ich im warmen Sand am Meer getanzt hatte, dass ich Faolanes Amulett trug, dass ich mitten im Hamburger Naherholungsgebiet einen Wolf gesehen hatte und durch Nebel in eine andere Welt gewandert war? Und dass diese Welt Salandor hieß und seit diesem Moment mein Leben irgendwie anders war und sich auch komplett anders anfühlte? Sie würde mich für einen durchgeknallten Idioten halte und ich konnte mich glücklich schätzen, wenn Sie mir nicht in kürzester Zeit ein paar kräftige Männer in weißen Kitteln ins Haus schicken würde. Mara wartete meine Antwort zum Glück nicht weiter ab, sondern fragte gleich weiter: „ Bist du krank? Ich hatte schon im Büro versucht dich zu erreichen, aber dein ach so liebreizender Kollege sagte mir, dass du zu Hause bleiben willst.“ „Es geht mir gut. Ich hab mich nur ein bisschen erkältet und dachte, dass ich besser im Bett bleibe, damit es mich nicht schlimmer erwischt“, wich ich ihren Fragen aus.
Dann holte ich tief Luft und traf eine Entscheidung. „Mara, hast du heute Nachmittag Zeit, können wir uns sehen?“ Sie war irritiert. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte sie, „du klingst so komisch.“
„Ja, alles in bester Ordnung“, sagte ich und hörte selber die Zweifel in meiner Stimme. „Hast du Zeit?“ „Ja klar“, sagte sie, „ich kann wohl gegen halb vier Feierabend machen und dann komme ich bei dir vorbei. Oder wollen wir lieber irgendwo hingehen, in ein Café oder Restaurant?“ „Nein Mara, komm bitte hierher. Ich möchte gerne in Ruhe mit dir sprechen.“ „Oh Gott, das klingt ja geheimnisvoll“, sagte sie, „hast du gestern deinen Traummann kennen gelernt und willst mir heute erzählen, dass du ihn heiraten wirst, und mit ihm in Grönland leben willst, oder was ist es?“ Sie kicherte und ich musste grinsen. Wenn es das wäre, wäre es zumindest noch erklärbar und realistisch. Ich unterdrückte ein hysterisches Kichern. „Nein, keine Sorge“, versuchte ich sie und vor allem mich selber zu beruhigen, „alles in bester Ordnung, ich will nur in Ruhe mit dir reden und nicht in einer vollgestopften Bar oder in einem Café. Meine Stimme klang leicht gepresst. „Und dir Geschichten von Wölfen, Nebel und Parallel-Welten erzählen“, setzte ich im Geiste nach und mir wurde etwas übel.
„Okay, dann bin ich um vier bei dir und ich bringe Kuchen mit, okay? Hast du noch den leckeren Cappuccino, den wir neulich getrunken haben?“
Typisch Mara, sie dachte auch immer nur ans Essen. Wahrscheinlich würde sie während ihrer Schwangerschaft kugelrund werden und dabei unglaublich süß aussehen. Ich lächelte und wir verabschiedeten uns.
„Oje“, dachte ich, „sollte ich ihr wirklich davon erzählen?“ Mara war verrückt, sensibel und meine allerbeste Freundin, aber ob sie mir das abnehmen würde? Ich musste mit irgend-jemandem darüber sprechen, sonst würde ich noch durchdrehen, entschied ich und Mara war die Richtige, wenn es überhaupt den oder die Richtige für solch eine Geschichte gab. Was, wenn ich wirklich krank war und mir alles nur einbildete? Meine Hand berührte das Amulett und ich seufzte tief. Ich ließ mich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Die Krisen anderer Leute, die das Fernsehen mehr oder weniger gekonnt in Szene gesetzt hatte, waren im Moment eindeutig leichter zu ertragen, als meine eigenen.
Um kurz vor vier klingelte es an meiner Tür. Ich hatte es immer noch nicht geschafft, mich aufzuraffen oder mich gar anzuziehen, so öffnete ich im Bademantel und mit dicken Wollsocken an den Füßen die Tür. Mara umarmte mich herzlich und sah mich dann mitleidig an. „Du siehst wirklich schrecklich aus“, sagte sie. „Danke“, sagte ich trocken, „jetzt fühle ich mich doch gleich richtig gut.“ Mara ging an mir vorbei und steuerte direkt auf die Küche zu. „Ich koche uns jetzt eine Kanne Tee und dann geht es dir gleich viel besser“, sagte sie und lächelte mich aufmunternd an. Ich schlurfte hinter ihr her und die Gedanken in meinem Kopf drehten sich. Sollte ich ihr wirklich davon erzählen? Vielleicht war es doch besser, das Ganze als das abzutun, was es wahrscheinlich war: ein sehr realistischer Tagtraum oder eine Halluzination. „Hübsche Kette“, sagte Mara in diesem Augenblick und zeigte auf mein Amulett. „Hat sie etwas damit zu tun, was du mir erzählen willst? Ich bin ja schon so gespannt.“ Wir setzten uns an den Küchentisch und ich griff hastig nach meinen Zigaretten. Mara schüttelte den Kopf und sah mich bittend an. „Lana, bitte, ich hab dir doch gesagt, dass ich schwanger bin. Wäre es okay, wenn du hier drinnen nicht rauchst?“ „Okay“, sagte ich und stopfte die Zigarette wieder in die Schachtel. Fahrig knete ich meine Hände. „Schieß los“, sagte Mara und schob sich ein großes Stück Kuchen in den Mund.
Eine Stunde später standen wir auf dem Balkon. Mara zog tief an einer Zigarette und starrte ins Leere. „Das kann nicht sein“, sagte sie zum ungefähr hundertsten Mal in den letzten zehn Minuten. „Aber was, wenn du doch nur geträumt hast?“, fragte sie, ebenfalls schon zum hundertsten Mal. „Aber was ist mit dem Amulett? Was ist mit der Panik, die mich überfällt, wenn ich es ablege?“ Ich sah sie kläglich an. „Ich kann es doch selber alles gar nicht glauben, aber jetzt, wo ich dir davon erzählt habe, bin ich mir hundertprozentig sicher, dass es wirklich passiert ist.“
„Was willst du jetzt tun?“, fragte Mara mit einem Mal ganz pragmatisch. „Na was wohl? Ich gründe eine Firma und organisiere Reisegruppen nach Salandor“, sagte ich trocken. „Was soll ich schon tun? Ich werde es vergessen, jedenfalls irgendwann. Ich werde einfach wieder so leben, wie immer. Gib mir noch ein oder zwei Tage, dann bin ich wieder okay und dann kann ich auch diese Kette ablegen. So hübsch ist sie nämlich gar nicht.“
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