„Wir sind sicher“, hatte Jinna gemurmelt und sich an mich gekuschelt. „Der Berg Zeuth und das Ringgebirge verhindern jeden Krieg in unserem Land. Keine Armee der Welt kann uns erobern.“
„Und die Kurrether?“, wagte ich zu fragen.
„Das sind gebildete Leute, die uns bei der Verwaltung helfen. Ratgeber der Königin-Witwe, von Fürstenhäusern und den Magistraten großer Städte.“
„Sie wollen uns beherrschen, ohne uns zu besiegen“, behauptete ich.
„Keiner von ihnen hat irgendwo die höchste Position. Sie bleiben immer in der zweiten Reihe. Du bildest dir da etwas ein. Und selbst wenn, was könntest du dagegen unternehmen? Das ist Sache des Königshauses und der Fürsten. Wir Bürger haben diejenigen zu akzeptieren, die das Schicksal über uns gesetzt hat.“
Von einer so selbständigen, intelligenten Frau wie Jinna hatten mich diese Worte überrascht. Aber ich gab ihr insofern Recht, als wir nichts dagegen tun konnten, wenn die Kurrether wichtige Stellen in der Hierarchie besetzten.
„Aber wir können ein freieres Leben woanders suchen“, fuhr ich damals unbedacht fort.
„Du findest, wir leben hier in Unfreiheit?“
Ich konnte das nicht einmal bejahen. Aber das bedrängende Gefühl, die Kurrether wären längst die wahren Herren des Landes und drückten uns langsam die Luft zum Atmen ab, war ich seit meiner Reise nicht mehr losgeworden. „Ich glaube, dass man anderswo freier lebt“, sagte ich daher.
„Wo? Im Norden oder im Süden, wo Barbaren und Eingeborene hausen? Im Osten, wo Monster das Kaiserreich überrannt haben? In Askajdar jenseits des Meeres, wo man unsereins nicht an Land kommen lässt?“
„Ich bin davon überzeugt, dass etwas dran ist an den Gerüchten über das Land Ostraia“, rutschte es mir heraus. „Eines Tages werde ich dorthin aufbrechen. Nicht wie die anderen Dummköpfe, die glauben, mit einer Wasserflasche und ein wenig Trockenfleisch die Wüste durchqueren zu können. Sondern ausgerüstet für eine Reise von vielen Wochen. Mit Packeseln für die Vorräte und genügend Gold, um ...“
„Dummkopf“, unterbrach sie mich. „Wie willst du an so viel Gold herankommen? Denk nicht über ein unbekanntes Land nach, das angeblich irgendwo existiert, sondern darüber, wie du hier Geld verdienen und dir eine Existenz aufbauen kannst.“
Seit jenem Sommermorgen vor zwei Jahren, an dem ich ihr meine Tagträume offenbart hatte, erinnerte sie mich immer wieder daran. Mal hänselte sie mich mit der Idee, genug Gold für eine solche Reise ins Ungewisse zusammen zu bekommen. Mal tat sie beleidigt, weil ich vorhätte, sie alleine zurückzulassen.
Um das Thema nicht erneut aufkommen zu lassen, trank ich nun den Thee aus und stand auf. „Zeit zum Schlafen, meine Schöne“, sagte ich.
„Es ist früher Morgen“, antwortete sie schnippisch. „Für Leute wie mich ist jetzt die Zeit zum Arbeiten. Du kannst im Gästezimmer schlafen, falls du dich zu schwach fühlst, den Weg in deine Wohnung auf dich zu nehmen.“
Sie stand ebenfalls auf und wandte sich schwungvoll um, sodass ihr Rock elegant nachwehte, während sie hinausging.
3
Es war früher Nachmittag, als ich wieder den Weg hochging zur Residenz des Fürsten. Die Sonne schien und nichts erinnerte mehr an die neblige Nacht. Über der Königsburg wehten die Fahnen auf halbmast, wie schon seit zwei Jahren. Sie würden so bleiben, bis Prinz Johah die Nachfolge des verstorbenen Königs übernahm. Der Prinz war erst vier Jahre alt, das dauerte also noch. Bis dahin führte die Königin-Witwe die Geschäfte, unterstützt von den königlichen Verwaltern unter der Leitung von Rat Geshkan. Dieser Geshkan war ein Kurrether und hatte es kurz nach dem Tod des Königs geschafft, eine der einflussreichsten Positionen im Land für sich zu beanspruchen. Aber Jinna hatte recht, wenn sie sagte, die Kurrether besetzten nicht die höchsten Stellen. Rat Geshkan konnte nur beraten, keine Entscheidungen treffen. Das blieb der Königin-Witwe vorbehalten.
Romeran öffnete die Tür nach einer angemessen langen Wartezeit. Er war eben nicht der Schnellste mit seinem Stock.
„Ich möchte mit dem Fürsten noch einmal über den Auftrag sprechen“, sagte ich. „Ein Freund von mir könnte ihn übernehmen, aber dem muss ich genaue Anweisungen geben und eine Anzahlung auf seinen Sold.“
Der alte Diener schüttelte den Kopf und nahm einen kleinen Lederbeutel von einer Ablage. „Sie sollen das selbst regeln. Hier sind dreißig Taler. Wie viel davon Sie dem Söldner bezahlen, bleibt Ihnen überlassen. Kann der Mann schreiben? Fürst Borran wünscht jede Woche eine Nachricht über die Ergebnisse der Suche.“
„Ich kümmere mich darum“, versprach ich. „Sollen die Berichte direkt an ihn geschickt werden oder an mich?“
„Sie sollen das selbst regeln“, wiederholte er und verabschiedete mich.
Auf dem Weg zurück in die Altstadt hatte ich ein ungutes Gefühl. Warum ließ mich Borran von seinem Diener abfertigen? Womöglich hatte ihn meine Ablehnung, persönlich den gestohlenen Stein zu suchen, so vor den Kopf gestoßen, dass ich seine Gunst verloren hatte. Andererseits trug ich dreißig Silbermünzen in der Tasche, über die ich frei verfügen konnte. Das war ein gewichtiger Vertrauensbeweis.
Bevor ich mich auf den Weg machte, um vor der Stadt nach dem Mann zu suchen, den ich im Auftrag des Fürsten nach Krayhan schicken wollte, brachte ich das Geld in Sicherheit.
Meine Wohnung befand sich in einem zweistöckigen Haus, das am nördlichen Rand der Altstadt lag. Die Straßen in dieser Gegend waren eng, die Gemäuer alt und düster. Aber hier kannte jeder jeden, was ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Sicherheit vermittelte.
Zwanzig der Taler verstaute ich in meinem Versteck für Wertsachen. Es bestand aus einem großen Fach in einem der hölzernen Stützbalken, die unverputzt durch meine Zimmer führten. Dieser eine Balken war nicht echt. Eine verschließbare Öffnung war so perfekt in ihn eingefügt, dass man sie nicht sehen konnte. Wenn man mit der Faust oder einem Messerknauf gegen den Balken schlug, klang er wie massives Holz. Ich wusste, worauf Diebe achteten; schließlich war ich selbst einer gewesen.
Mit den restlichen zehn Silbertalern in der Tasche machte ich mich auf den Weg zum West-Tor. Auf dem Platz davor, innerhalb der Stadtmauern, war man dabei, die Marktstände vom Morgen abzubauen. Hier wurden die Erzeugnisse der Bauern im Umland angeboten, aber auch das, was die Händler mit ihren Wagen aus entfernten Gegenden mitgebracht hatten.
Es war die Zeit der Bettelkinder, die um die unverkäuflichen Reste und das verdorbene Obst rangelten, das die Markthändler wegwarfen. Es hatte während meiner ersten Wochen in der Stadt Tage gegeben, an denen ich mich unter sie mischte, weil ich sonst nirgendwo etwas Essbares fand.
Zum Dieb hatte ich damals noch nicht getaugt. Diese Zeitgenossen waren bereits morgens im dichtesten Gewühl auf dem Markt. Manche hatten sich auf die Geldbörsen von Mägden und Hausfrauen spezialisiert, andere stahlen die Auslagen der Händler. Dabei ging es natürlich nicht um Lebensmittel, sondern um etwas, das man an Hehler weiterverkaufen konnte.
Diesem wenig ehrbaren Beruf des Langfingers war ich später auch nachgegangen. Ich war nie wirklich gut darin gewesen, aber es hatte genügt, um zu überleben. Noch immer erkannte ich jeden aus der illegalen Zunft auf den ersten Blick - und man kannte mich. Niemand würde auf die Idee kommen, sich an meinem Eigentum zu vergreifen. Ich würde es bemerken und ihm die schlimmste Strafe zu fügen, die einen Taschendieb treffen konnte: ihm die Finger brechen.
Durch das West-Tor, das größte der Stadt, gelangte ich hinaus auf den Händlerwasen. Das war ein großer Platz aus festgetrampeltem Lehm, auf dem die Wagen der Händler aus fernen Gegenden standen. Begrenzt wurde der Platz von billigen Tavernen und den Ställen für Pferde und Esel. Zwischen den abgestellten Wagen standen Zelte, in denen die Wagenlenker hausten, während ihr Handelsherr in der Stadt Geschäfte tätigte. Die Herren selber nutzten, je nach Füllstand ihres Geldsäckels, die umgebenden Tavernen oder die besseren Gasthäuser der Stadt als Unterkunft.
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