1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Am Wochenende war ich grimmig entschlossen, meine Familienpflichten zu erfüllen. Zuerst rief ich Silke an, die verkatert und müde wirkte und ziemlich kurz angebunden war. Ob sie mich irgendwann später zurückrufen könnte? Ich grinste. Hatte sie wieder einen draufgemacht! Und das Gegrummel im Hintergrund war wohl der neueste Herr ihres Herzens – obwohl, bis an ihr Herz kamen die Kerle meist gar nicht...
Meike war wenigstens schon wach, Kunststück, mit drei kleinen Kindern. Sie jammerte wieder herum, behauptete aber, sie hätte ein Kilo abgenommen, gewaschene Haare und die Wohnung sei ziemlich ordentlich, naja, teilweise... Und Robbi sei nicht mehr ganz so kurz angebunden zu ihr. Ob ich vorbeikommen wollte? Wollte ich nicht. Die Schulaufgabe lag noch herum, und ich hatte noch nicht annähernd alles vorbereitet. Immer noch besser, als Windeln in die Maschine zu stecken und Meikes Küche zu putzen!
Meine Eltern waren ebenfalls nicht zum Ratschen aufgelegt. Das hatte ich aber vorher gewusst und den Anruf extra auf diese Zeit gelegt. So konnten sie mich nicht mit ihren Sorgen nerven und ich hatte meine Pflicht trotzdem erfüllt. Samstagmittags gingen sie immer wandern; also ermahnten sie mich nur, schön fleißig zu sein, rasch befördert zu werden – als ob das von mir abhinge! – und mich schön warm anzuziehen. Ich gelobte alles, wie es einer braven Tochter zukam, behauptete, Silke und Meike gehe es glänzend und legte erleichtert wieder auf.
Danach wandte ich mich mit mäßiger Begeisterung wieder der Schulaufgabe zu. Wenn ich fünf Stück korrigiert hätte, dürfte ich die Stunden für den Geschichtsgrundkurs vorbereiten... Mit solchen Tricks hangelte ich mich durch das Wochenende, bis am Sonntagnachmittag endlich alles vorbereitet und ein Großteil der Schulaufgabe korrigiert war. Außerdem hing alles wieder gebügelt im Schrank. Einen neuen Schrank brauchte ich dringend, der alte war so überfüllt, dass das Bügeln eigentlich Zeitverschwendung war.
Ich ging schön lange spazieren, als ich alles fertig hatte, danach stellte ich mich wieder ratlos vor den Spiegel. Was sollte ich mit diesen Haaren nur anfangen? Probeweise löste ich den langen Zopf und bürstete die schwarze Flut, bis sie knisterte. Schon schön, ja – aber so unpraktisch! Und offen tragen wollte ich sie auch nicht, ich sah damit aus wie diese Schnepfen auf den Umschlägen billiger Liebesromane, wenn die auch keine ausgeleierten Sweatshirts trugen, sondern rüschenumsäumte Mieder oder gar nichts...
Ich bürstete die Haare so zurecht, dass eine normalerweise verdeckte Strähne auf der Seite übrig blieb, dann schnitt ich diese Strähne frech zehn Zentimeter über der Kopfhaut ab, feuchtete den Rest an und wartete etwas. Sie lockte sich – keine Wellen, richtige Locken! Einen richtigen kurzen Lockenkopf hätte ich gerne, dachte ich. Ich nahm mir vor, die ganze Mähne am Freitagnachmittag abzuschneiden und mit der neuen Frisur auf das Faschingsfest zu gehen. Gut würde ich aussehen! Wozu eigentlich? Um Schüler zu beeindrucken? Kollegen? Wen denn? Nein, einfach nur, um mich an meinem neuen Aussehen zu freuen! Und sollte es schief gehen, blieb am Samstag immer noch Zeit für einen Friseurbesuch.
Am Montagabend hatte ich die Schulaufgabe fertig und schaffte es, so müde ich war, auch noch, die Bemerkungen darunter zu schreiben und eine Liste mit Stilblüten zu tippen. Um halb zwölf taumelte ich befriedigt ins Bett.
Am Dienstag verzichtete ich darauf, in der ersten Stunde den Referendar in der 11 c zu besuchen, er sollte die Klasse erst einmal in Ruhe kennen lernen. Noten, Stoffübersicht und kleine Hinweise zu einzelnen Schülern hatte ich ihm schon in der Vorwoche ins Fach gelegt. Ich kam nach der dritten Stunde etwas verfrüht ins Lehrerzimmer zurück, weil meine 9 a rechtzeitig zur Physikschulaufgabe aufbrechen wollte. Wahrscheinlich standen sie nur die ganze Pause hindurch sinnlos vor dem Prüfungssaal herum, aber wenn sie es nicht anders haben wollten? Als ich die Tür aufschloss, hörte ich gerade noch, wie Holzner sagte: „Geben Sie sich keine Mühe, das hat doch sowieso keinen Sinn!“
Wen nervte er denn jetzt schon wieder? Ach, Katja, die Referendarin! Und was bitte sollte keinen Sinn haben? Holzner genierte sich so wenig, dass ich ruhig in der Nähe stehen bleiben und so tun konnte, als wollte ich auch etwas kopieren. Stimmte sogar, die Stilblütenliste für die fünfte Stunde. Ich wühlte also in meiner Tasche herum, als könnte ich die richtige Mappe nicht finden, und spitzte die Ohren. Katja hatte nicht geantwortet, und Holzner fuhr fort: „Sie eignen sich einfach nicht für diesen Beruf, Sie haben keinen Draht zu den Schülern, sehen Sie es doch ein!“
Katja kopierte verbissen weiter, aber ich sah ihrem Rücken an, dass sie sich nur mühsam beherrschte. Wie kam er dazu, einer Referendarin, die ihre Sache ziemlich gut machte, so einen Müll zu erzählen? Ich beschloss, mich einzumischen. „Ist ja wie Kafkas Vater“, kommentierte ich.
„Was?“ Er sah mich verwirrt an. Ich winkte gelangweilt ab – Witze konnte man nicht erklären. Katja grinste leicht verzerrt.
„Ich finde, du kommst prima mit den Schülern zurecht“, sagte ich dann, „das hab ich doch beim Wandertag und auch bei den Unterrichtsbesuchen gesehen!“ Katja war verblüfft, denn ich hatte sie nie im Unterricht besucht, aber sie spielte mit. Holzner hatte ja ohnehin keine Ahnung, wer hier wen betreute.
„Und deine Arbeitsblätter und Projekte sind ausgezeichnet, finde ich, daraus kann man direkt noch was lernen. Ich bin dir auch sehr dankbar, dass du am Freitag eine Aufsicht übernimmst. Hast du Lust, nach der sechsten Stunde mit mir was essen zu gehen? Vielleicht kommen Bettina und Holger auch noch mit...“
Ihre Augen glänzten dankbar. Holger schien ihr ohnehin ganz gut zu gefallen. „Gerne, ja.“ Ihre Stimme war ganz leise.
„Prima, dann treffen wir uns hier um eins. Und lass dir von niemandem etwas Negatives einreden, ja? Miesmacher gibt es leider überall...“
Ich warf Holzner einen mörderischen Blick zu und verzichtete vorerst auf das Kopieren. Holzner leider auch, er kam sofort hinter mir her. „Ich muss um eine Erklärung bitten! Das war eine Unverschämtheit!“
Ich blieb stehen und sah ihn an. „Wenn Sie mit den Schülern umgehen wie eben mit Frau Reichard, haben Sie Ihren Beruf total verfehlt. Mehr Erklärung gibt es nicht.“
Ich ließ ihn stehen und verzog mich ins Kabuff. Jetzt war eine Zigarette nötig, und Holzner war ein fanatischer Nichtraucher. Dafür kam Brandes hinter mir her. Na gut, eindeutig das kleinere Übel!
Er gab mir Feuer und fragte: „Was war denn los?“ Ich winkte ab. „Holzner hat Frau Reichard erzählt, sie könnte ihren Beruf gleich aufgeben, sie hätte keinen Draht zu den Schülern.“
Er sah mich konsterniert an. „Unsinn!“
„Ich hab´s doch selbst gehört!“
„Nein, ich meine, Holzner redet Unsinn. Vor allem, weil Frau Reichard ihre Sache gut macht. Ich habe zwei ihrer Deutschstunden gesehen, sehr anerkennenswert. Manche Kollegen sind schon etwas exzentrisch...“
Er zuckte resigniert die Schultern unter dem verbeulten Leinensakko. Angezogen war er immer, als hole er sich die Klamotten aus Altkleidersäcken. „Sie sind recht kess für Ihr Alter, einen gestandenen Oberstudienrat so anzupfeifen...“
Ich grinste verlegen. „Naja, nur bei Holzner. Ich habe das Gefühl, mit ihm wird es immer schlimmer.“
Brandes überlegte. „Das kann ich nicht so beurteilen. Ich bin ja selber erst seit einem halben Jahr hier. War er früher weniger von sich eingenommen?“
„Das nicht, aber der Ton war nicht so aggressiv, und er hat sich nicht jede Woche einen neuen Feind gemacht. Diese Mischung aus Frömmlertum und Frauenfeindschaft macht mich rasend.“
Brandes antwortete nicht, sondern drückte seine Zigarette aus, lächelte kurz und verschwand wieder aus dem Kabuff. Na gut, ich musste auch noch dringend kopieren!
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