Andere Frauen, nicht so beherrscht wie sie, hätten getobt, ihm die Haare ausgerissen, die ihm immer auf jungenhafte Weise störrisch in die Stirn fielen, hätten seine Brille an der Wand zerschmettert. Sie nicht. Sie hatte darauf nichts zu erwidern gewußt. Aus Karcsis Mund sprach die Partei. Da hatten Gefühle zu schweigen. Außerdem war auch seine Brille nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen war, wie sie mit hämischem Lächeln feststellte. Hier trug er ein klobiges schwarzes Kunststoffgestell mit runden Gläsern, die seinem Gesicht etwas Eulenartiges gaben.
Sie hatten sich auf ihre Bitten noch zweimal in neutraler Umgebung gesehen, einmal im Restaurant Internationale Solidarität und einmal auf dem Fahrgastschiff Leuchtender Oktober.
„Wir leben in einer belagerten Festung“, hatte er ihr gesagt, „da fragt und rätselt man nicht, da faßt man das Gewehr fester und kämpft weiter, so schwer es auch sein mag“, ein Wort, das sie nie vergaß.
Jeden Abend hörte sie aus dem ans Ohr gepreßten Radio neue Namen von Personen, zu denen sie voller Vertrauen und in Achtung vor ihrer historischen Leistung aufgeblickt hatte. Nun sollte auch Radek ein Verräter sein?
Lange dachte sie über Verrat nach. Das Wort beunruhigte sie. Und als sie mit Karcsi darüber sprach, antworte er:
„Wir sind von Feinden umgeben, eine Situation, in der schon der geringste Zweifel am Sieg unserer Sache Verrat darstellt. Der Feind zweifelt nicht. Der Feind hat keine Skrupel. Der Feind macht sich keine Gedanken um Recht oder Unrecht, um Humanität oder Barbarei. Der Feind hat nur eins im Sinn: uns zu vernichten. Er hat einen waffenstarrenden Ring um uns gelegt und wartet geduldig, daß wir beginnen zu zweifeln. Er hat es nicht eilig. Er weiß, je länger er geduldig wartet, desto näher kommt er seinem Ziel. Denn wir sind es, die sich Gedanken um Recht und Unrecht machen, um Humanität und Barbarei, und wir beginnen zu zweifeln, ob wir unsere Sache auch richtig im Sinne von Menschenrecht und Humanität anpacken. Nach dem Zweifel kommt der Wunsch, es besser machen zu wollen. Es besser zu machen heißt, es anders zu machen, als die Partei es beschlossen hat. Um sich auszutauschen, sucht der Zweifler Verbündete. Findet er sie nicht bei Freunden, so lauscht er den Argumenten des Feindes, und erscheinen sie ihm zuerst widersinnig, so werden sie ihm von Tag zu Tag plausibler.“
„Aber wie kann man zu allem schweigen, was die Partei befiehlt?“ fragte sie.
„Da gibt es ein klares Wort von Petöfi in seinem Gedicht, du kennst es, wir haben es gemeinsam übersetzt und in die richtige Form gebracht:
Wer ich bin, das sage ich nicht,
Wenn ich spreche, so versteht man mich nicht
Daß ich schweige, daran erkennt man mich.“
Sie wußte, das Gedicht lautete ein wenig anders, korrigierte ihn aber nicht.
„Aber einmal werden wir Rechenschaft ablegen müßen.“
„Rechenschaft ja, aber als Kommunisten, die allein imstande sind, die Tragik unserer Epoche zu verstehen und sie dialektisch und historisch in den Kontext des allgemeinen historischen Ablaufs einzuordnen. Rechenschaft ja, aber nicht aus der Verräterperspektive ...“, sie wollte einen Einwand machen, doch er gebot ihr mit einer Handbewegung zu warten, „ ...aber nicht aus der Sicht von Parteiverrätern wie Sinowjew, der schon verurteilt war, ehe das Standgericht über ihn verhängt wurde. In dem Augenblick, da seine Zweifel an der Partei größer waren als seine Treue zu ihr, konnte er nicht länger geduldet werden, egal, ob er dem Buchstaben nach schuldig geworden ist oder nicht“.
„Und wenn es dir geschähe?“ fragte sie leise, „Karcsi, Lieber, was, wenn es eines Tages hieße, auch du hättest die Partei verraten?“
Einen Moment flackerten seine Augen. Sie kannte dieses irrlichternde Flackern von den Augenblicken, in denen er über ihr lag und sich in ihr ergoß. Das waren die Sekunden ihres größten Glücks. Während sie sich liebten, nahm sie langsam seine Brille ab, legte sie liebevoll beiseite und wartete, bis seine Augen zu brechen schienen, und wenn es geschah, zog sie seine Oberschenkel mit zärtlicher Kraft an sich, um die Verlängerung des Augenblicks genießen zu können.
„Karcsi, es könnte doch sein, daß sie auch dich holen.“
Aber sie hatte wohl ihren Einfluß auf ihn überschätzt. Nach einer kurzen Sekunde der Verwirrung, hatte er sich und seine Gefühle wieder in der Gewalt. Er nahm die Brille ab und putzte sie wie in Gedanken.
„Das“, sagte er kühl, „kann durchaus geschehen.“
„Und wenn sie auch dich erschießen?“
„Dann geschieht es zu Recht. Dann habe ich etwas getan, das die Partei als falsch, verbrecherisch und schädlich ansieht. Dann habe ich fehlgehandelt. Das kann aus einem Irrtum entstanden sein. Wir alle sind unseren Irrtümern unterworfen.“
„Und die Partei?“
„Irrt nie.“
„Karcsi, Lieber“, rief sie leise, „besinne dich. Oder“, sagte sie von einem merkwürdigen Gedankengang eingenommen, „ist es vielleicht etwas ganz anderes?“
Sie betrachtete sein Gesicht, als er schwieg. Es war ruhig und gefaßt. So ruhig und gefaßt möchte ich einmal sein, dachte sie. Woher nimmt er die Kraft und die Gewißheit, daß alles richtig ist, was er sagt? Woher kommt diese innere Ruhe? Und wie würde er sich vor den Bütteln verhalten, bei denen ein leichter Tod noch das beste wäre, das sie zu bieten hätten? Sie wartete auf Antwort.
„Oder“, wiederholte sie leise, fast zärtlich, „ist es vielleicht etwas ganz anderes?“ Und als er nicht reagierte: „Ist es vielleicht das: Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich nicht dein gedenke, denn Jerusalem soll meine höchste Freude sein und bleiben.“
Die letzten Worte hatte sie sehr leise gesagt, kaum, daß sie ihr als Hauch über die Lippen kamen.
„Ist es das, Karcsi? - Karcsi, Lieber, ist es das?“
Energisch und mit, wie ihr schien, unangemessener Entschlossenheit setzte er die Brille auf:
„Nein“, sagte er, „du hast, wie immer, wieder alles falsch verstanden. Und, wenn ich dir einen guten Rat geben darf, den besten, den ich für einen Menschen in deiner Situation habe: Laß diese unangebrachten Gedankengänge. Sie könnten dir einmal sehr weh tun.“
Ervin mit dem ungarischen Paß und beantragten Reisepapieren in der Tasche hatte verständnislos den Kopf geschüttelt zu Karcsis Philosophie und gesagt, während er ihr den Arm um die Schulter legte: „Er hat den Verstand verloren, gräme dich nicht um ihn. Aber er wird Karriere machen mit solchen Ansichten oder zumindest dem Genickschuß entkommen. Du aber mußt sofort aufhören, dir eigene Gedanken zu machen.“
Von fern beobachtete sie eifersüchtig Karcsis weiteren Werdegang: Wie er beauftragt wurde, am Moskauer Weltwirtschaftsinstitut bei Eugen Varga die Europa-Abteilung umzugestalten. Wie er an der Leninschule begann, Außenpolitik zu unterrichten. In der Zeitung, als einmal von ihm die Rede war, erschien im Foto neben ihm eine Frau mit spitzer Nase und breitem Kinn, die Siebenstern! seine Frau, wie erläuternd mitgeteilt wurde. Gottseidank, dachte Lena, nun kann alle Welt sehen, wie häßlich sie ist.
Doch da kam ein neuer Gedanke in ihr auf, und obwohl sie ihn gleich verwarf, er ließ sich nicht abschütteln. Sie krauste die Stirn, wenn sie dem neuen Gedanken Raum gab in ihrem Denken. Zuerst krauste sie die Stirn über sich selbst und ihre kleinbürgerlichen Anfechtungen, dann, je mehr ihr der Gedanke einleuchtete, über Karcsi, ihren Mann. Was? dachte sie, wenn er, sie, Lena, die Ungläubige geheiratet hätte wegen des Geldes, aber mit der Siebenstern, so häßlich sie war, zusammenleben wollte, weil sie Zweig war vom selben Stamm und Gefährtin in einem gemeinsamen Jerusalem? Sie schämte ich des Gedankens. Unsinn, sagte sie sich, das ist die typische Gedankenakrobatik einer abgewiesenen Spießerin, unwürdig einer aufgeschlossenen modernen Frau. Doch der Gedanke war nicht mehr zu tilgen.
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