„Debora heißt übersetzt: Wespe, und Raw Nachman hat gesagt: daß überhebliche Frauen Wespe genannt werden sollen.“
„Bin ich denn überheblich?“
„Nein!“, sagte Karcsi und György sagte: „Sehr.“
„Menschenskind“, sagte Karcsi, „laß sie in Ruhe mit deinem Spott.
Und der Talmudkundige rezitierte:
„Ein Mensch verkaufe alles, was er hat, und heirate die Tochter eines Gelehrten. Findet er nicht die Tochter eines Gelehrten, so heirate er die Tochter eines der Großen seiner Zeit. Findet er nicht die Tochter eines Großen seiner Zeit, so heirate er die Tochter eines Synagogenvorstehers. Findet er nicht die Tochter eines Synagogenvorstehers, so heirate er die Tochter eines Almoseneinnehmers. Findet er nicht die Tochter eines Almoseneinnehmers, so heirate er die Tochter eines Kleinkinderlehrers. Er heirate aber nicht die Tochter eines Laien, weil sie Scheuel sind und ihre Frauen Geschmeiß. Über sie und ihre Töchter sagt die Schrift: Verflucht, der bei derart Tier liegt.“
„Ist das wahr?“ fragte Lena erschrocken. György sagte: „Allerdings“, und Karcsi sagte: „Das ist nicht wörtlich gemeint, sondern in übertragenem Sinn.“
„Ja, ja, ja“, spöttelte György, „wahrscheinlich ist auch die Legende von der Erschaffung der Welt in übertragenem Sinn gemeint.“
„Da hast du recht“, sagte Karcsi, „auch sie und die anderen Legenden sind in übertragenem Sinn gemeint.“
„Es scheint für einen jüdischen Revoluzzer schwierig zu sein“, sagte György, „den Aberglauben seiner Bibel mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild zu versöhnen.“
Den ganzen Tag hatten sie pflichtgemäß gefastet. Karcsi jammerte: „Wenigstens ein Wiener Würstchen hätten sie uns genehmigen sollen.“ Lena litt nicht darunter. Praktisch eingestellt wie sie war, sah sie darin eine kleine Möglichkeit, die Figur zu verbessern.
Die vorgeschriebene Zahl von zehn religiös volljährigen Männern war auch vorhanden. Sie hätte gern alle ihre Freunde aus der kommunistischen „Baracke 23“ um sich gesehen, aber außer György hatte sich keiner von ihnen dazu aufraffen können, an der Feier teilzunehmen.
Morgengebet und Mittagsgebet waren ihnen erlassen worden. Als die Männer das Achtzehngebet sprachen, sah sie aus dem Nebenraum, in dem sich die Frauen versammelt hatten, wie sich Karcsis Lippen so bewegten, als spräche er den ganzen Text mit.
Auch als er ihr dann den Ring an den Finger steckte, sprach er ohne zu stocken die dabei üblichen hebräischen Worte.
„Du warst wohl im Talmudunterricht ein guter Schüler“, versuchte sie ihn zu necken. Er sah sie mit strafendem Blick an und sagte:
„Der beste.“
Es wurden noch verschiedene Gebete aus ihr nicht ersichtlichen Anlässen gesprochen, bis sich das Brautpaar zum ersten gemeinsamen Essen als Eheleute zurückziehen konnten. Während im Festsaal ein Lärmen und Gläserklingen anhob, saßen sie schweigend beieinander und wußten sich nichts zu sagen. Nur als ihr Ehemann sich über das Essen hermachte, mahnte sie:
„Schling nicht so, es nimmt dir niemand etwas weg.“
Es war ihr erster Satz als Verheiratete. Hinterher gingen sie zur Festgesellschaft hinüber. Zuerst wurde ihm, dann ihr Wein gereicht. Er trank sein Glas in einem Zug aus, stellte es vor sich auf den Boden und zertrat es mit kräftigem Aufstampfen. Noch auf den Scherben drehte er den Absatz mehrmals, bis auch übriggebliebene größere Stücke zermalmt waren.
Eigentlich hatte sie erwartet, daß er sagen würde: So wie dieses Glas zertrete ich die Feinde der proletarischen Revolution, aber er sagte auch hier nur das übliche:
„Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich nicht dein gedenke, denn Jerusalem soll meine höchste Freude sein und bleiben.“
So ging die Hochzeitszeremonie zuende. Von den Kommunisten in „Baracke 23“ wurden die Neuvermählten lärmend empfangen.
Von allen wurde sie aus Spaß eine Woche lang Debora gerufen, manchmal, von György animiert, Wespe, bevor sich das vertraute Lena wieder durchsetzte. Wie hätte sie ahnen können, daß man sie ein paar Jahre später in Rußland noch anders, nämlich Magdalena Awgustowna, nennen würde.
Wenige Wochen nach der Hochzeit war Karcsi, ohne sich zu verabschieden, verschwunden. György hatte sie beiseite genommen:
„Wir haben Karcsi nach Ungarn geschickt, um wichtige Unterlagen der Partei sicherzustellen.“
Ihre Aufgabe sei es nun, seine Briefe, die postlagernd an sie, seine Ehefrau, gerichtet werden, ungeöffnet ihm, György, auszuhändigen. Und nach weiteren drei Wochen hatte György sie erneut beiseite genommen:
„Er ist zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.“
Es hatte sie nicht überrascht. Sie hatte vorher gewußt: so verlief das Leben eines Berufsrevolutionärs. Die Partei war verarmt, sie, Lena, hatte ihr zu vorübergehendem Wohlstand verholfen. Aber hätte es nicht eine andere Möglichkeit gegeben, Karcsi in Wien eine unverfängliche Adresse zu sichern? Sie beklagte sich nicht, war aber gekränkt. Sie hatte sich auch darüber gewundert, wie bedenkenlos Revolutionäre sich einer religiösen Zeremonie bedienten, um an Geld zu kommen. Für Lena waren Religionen wirklich Opium für das Volk. Aber sie wußte auch, daß die Partei manchmal verschlungene Wege gehen muß, das wußte und akzeptierte sie. Über die Gründe ihrer Strategien und Taktiken hatte die Partei niemand Rechenschaft abzulegen.
Nach der Entlassung aus dem ungarischen Gefängnis, war Karcsi nach Moskau gekommen. Zuerst hatte sie gedacht und gehofft, er sei ihr gefolgt, denn sie lebte schon seit einem Jahr in der Hauptstadt des Vaterlandes der Werktätigen, ein Wort, das sie gewohnt war, in vollem Ernst und ohne ironischen Akzent auszusprechen. Doch Karcsi machte keine Anstalten, sie wiederzusehen. Da ging sie zu ihm.
Er fing sie im Flur ab. Längst lebte er, wie sie zu ihrer Verblüffung erfuhr, mit einer anderen Frau zusammen, aber nicht mit irgendeiner, sondern mit der Siebenstern, dem Weibstück mit spitzer Nase und breitem Kinn aus der Baracke 23 des ehemaligen Grinzinger Seuchenhospitals, die es verstand, mit großer Geste lange Zigaretten zu qualmen und mit „axiomatisch“ und „transzendental“ auf den Lippen die jungen Kerle zu betören, die als Kommandeure und Kommissare in der Ungarischen Räterepublik Pulverdampf gerochen, aber noch keine Erfahrung mit Frauen hatten und deren Mutter sie hätte sein können. Das Wort „Bigamie“ lag Lena auf der Zunge, doch die Erklärung, die Karcsi für sein Verhalten ihr gegenüber vorbrachte, verblüffte sie noch mehr:
„Zu den Pflichten eines Kommunisten gehört“, sagte er,“ alles zu vermeiden, das die Aufmerksamkeit der GPU auf einen ziehen könnte.“
„Weil ich meinen Ehemann besuche, ziehe ich die Aufmerksamkeit des Staatssicherheitsdienstes auf mich?“
„Indem du unklugerweise Kontakt zu mir aufgenommen hast, sind die Sicherheitskräfte gezwungen, der Sache nachzugehen.“
„Welcher Sache, zum Donnerwetter? Daß wir verheiratet sind und zwar miteinander, meinst du das mit der Sache nachgehen?“
„Die GPU hat wichtigere Aufgaben, als sich von ausländischen Gästen, die sich unvorschriftsmäßig verhalten, irritieren zu lassen.“
„Karcsi, Lieber, von welchen Vorschriften sprichst du? ich verstehe dich nicht. Ich kenne keine solchen Vorschriften.“ „Sie sind nicht niedergeschrieben worden, da jeder, der der Partei dient, sie kennt, beherrscht und achtet.“
„Und sie bedeuten?“
„Daß es unzulässig ist, wenn ein Kommunist die Staatssicherheitskräfte aus sentimentalen Gründen mit überflüssiger Arbeit belastet.“
Unermüdlich hatte er während der Belehrung die Brillengläser geputzt. Es war aber kein Hirschlederlappen, wie sie zu ihrer Genugtuung und Schadenfreude mit leichtem Lächeln entdeckte, sondern ein unbesäumter fußliger Flicken.
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