Sie lag lange schlaflos unter ihrem Laken. Ihre Gedanken konnte sie nicht abschalten.
Amalia würde ihren Hengst bekommen. Die Kleine erinnerte sie an ihre Fohlen, die sich tapfer auf die zitternden Beinchen kämpften. Wie verloren musste sie sich in ihrer Familie fühlen. Seit Konstantin studierte, kam er nur noch selten heim. Wie ein Hündchen war das Mädchen schon als Vierjährige hinter ihm hergelaufen. Wo Konstantin sich aufhielt, war die Kleine nicht weit. Er hatte sie auf seine Schultern gesetzt und war mit ihr über den Hof bis hinunter zum Stall galoppiert. Über das ganze Gesichtchen strahlend, hatte sie sich an ihm festgeklammert.
Er war wie ein liebevoller großer Bruder mit Amalia umgegangen.
Das konnte man nicht von Frederico sagen. Wo Konstantin zugewandt, offen und liebevoll war, war Frederico manchmal arrogant und abweisend. Konstantin ruhte in sich, Frederico war unberechenbar. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder hatte er noch kein Ziel.
Sie liebte ihre Söhne, aber war sie eine gute Mutter? Waren ihr die Pferde nicht immer wichtiger?
An Amalia dachte sie mit einer gewissen Befangenheit. Sie fragte sich, warum Maxim die Tochter seines ungeliebten Bruders so ohne Weiteres in seinem Haus aufgenommen hatte. Genau wie Frederico dachte sie, dass ein Internat, selbstverständlich eines der besten, vielleicht richtiger gewesen wäre. Was also hatte ihn dazu bewogen, das Mädchen bei sich zu behalten? Amalia war ein Abbild ihrer Mutter. Hatte Maxim ein schlechtes Gewissen?
Theresa erinnerte sich an die Fotografie, die an Amalias Bett stand. Und sie erinnerte sich an den Skandal, in dessen Mittelpunkt Bella und Maximilian gestanden hatten. Theresa wünschte sich, nie davon gehört zu haben. Es war eine Geschichte von Alkohol, Verführung und Sex.
Sie konnte nicht einmal ausschließen, dass Amalia Maxims Tochter war.
Aber auch sie konnte sich, wie Maria, dem Charme des Mädchens nicht entziehen. Wenn sie sich eine Tochter wünschen dürfte, gestand sie sich ein, wäre Amalia ihre erste Wahl. Sie besaß mehr Gefühl für Pferde als Konstantin und Frederico zusammen. Ihre Söhne waren gute Reiter, aber Amalia war ihre Seelenverwandte. Frederico konnte ein Pferd rücksichtslos zuschanden reiten. Konstantin ließ dem Pferd zu viel Freiheit. Amalia besaß genau die richtige Balance.
»Ist Marisa schon da?«
Sie bekam keine Antwort, als sie den Stall betrat. Marisa war Tierärztin und Theresas Freundin.
Wenn es Probleme mit den Pferden, Hunden oder Schafen gab, wurde sie gerufen. Sie war ein Naturereignis. Eine Frau, die sich einen Dreck um die Meinung anderer scherte. »Tu, was du tun musst, frag nicht erst.«
Sie hatte fünf Söhne von fünf Männern. Mit keinem war sie verheiratet gewesen. Ihr rotes Haar leuchtete wie Feuer in der Sonne und Sommersprossen zierten ihr Gesicht wie Gänseblümchen eine Sommerwiese.
Mit kräftigen Händen griff sie zu. Bis zum Ellbogen mit Blut und Schleim bedeckt, half sie den Fohlen auf die Welt, die nicht allein kommen wollten.
Die Nachgeburt der letzten Nacht musste untersucht werden. Eine der Stuten war am Bein verletzt. Die Wunde war entzündet.
Im Stall war niemand. Nur die Hunde begrüßten sie. Theresa ging durch die lange Gasse zwischen den Boxen. Fast alle Tiere standen auf der Weide. Desdemona wieherte leise.
»Na, meine Hübsche, gleich kommt Marisa, sie wird dir helfen.«
Sie streichelte sanft die Nüstern der verletzten Stute. Desdemona schnaubte. Es roch nach frischem Heu. Die geöffneten Stalltüren ließen die noch erträgliche Morgenluft ein. Aber auch heute würde sich die Hitze gnadenlos über das Land legen.
Theresa trug ein ärmelloses T-Shirt und Reithosen. Sie wollte später einige der Pferde bewegen, und sie erwartete zwei Reitschülerinnen. Auf dem Weg zur Sattelkammer hörte sie Schritte und gleich darauf Gelächter. In der offenen Tür konnte sie zwei Silhouetten erkennen.
»Da bist du.«
»Da bin ich.« Marisa umarmte sie.
Raffael küsste Theresa.
Marisa grinste. Sie sagte: »Deine Nachgeburt ist auf den ersten Blick in Ordnung.«
Sie hatte sie auf Vollständigkeit überprüft. Jetzt ging sie zu der verletzten Stute.
Seit Raffael da ist, dachte Marisa, geht es Theresa besser.
Sie hatte ihre Vitalität, ihren Witz wiedergefunden.
Romantische Liebe war in Marisas Augen eine Erfindung der Neuzeit. Die Menschheit war Jahrtausende ohne sie ausgekommen. Gesunder Sex war wunderbar und unverbindlich, Enttäuschungen nicht programmiert.
Aber Theresa hatte andere Vorstellungen und Wünsche. Sie hatte sich auf ihren ersten Ehemann, Konstantins Vater, verlassen können. Das hatte sie auch von Maximilian erwartet. Ein Irrtum, wie sie bald hatte erkennen müssen.
Marisa hatte versucht, ihre Freundin zu trösten. Theresa war anders als sie. Sie wünschte sich Liebe von einem Mann, sie selbst tat das nicht. Ihr genügte die Liebe zu ihren Söhnen und den Tieren.
Amalia stand vor dem geöffneten Kleiderschrank. Sie wühlte in ihren T-Shirts.
Auf dem Fußboden türmten sich Röcke und Hosen.
»Was ist denn hier los?« Madame Durand stand in der Tür.
Amalia fuhr herum. »Ich habe nichts anzuziehen.« Sie nutzte die Gebärdensprache.
Madame Durand war die Einzige im Haus, die das Gebärden beherrschte.
»Aha? Und was ist das?« Sie deutete auf den Boden.
Amalia sah sie unschlüssig an. »Ich weiß nicht, was ich anziehen soll.«
»Wollen wir mal zusammen nachsehen?«
Amalia nickte eifrig. Sie war nicht eitel, ganz im Gegenteil. Abgeschnittene Jeans und verwaschene Shirts genügten ihr normalerweise.
Die reichen kleinen Mädchen in Amalias Klasse kamen in Rosa und Weiß gehüllt, trugen Schmuck und fühlten sich verhöhnt.
Die Privatschule war zu Beginn ein Problem gewesen. Zum ersten Mal war Amalia mit Kindern aus ihrem eigenen Milieu konfrontiert worden. Auf dem Gut kam sie nur mit den Kindern der Dorfbewohner und der Angestellten in Berührung. Manchmal auch mit Theresas Reitschülern. Sie hatte nie erfahren, wie es sich anfühlte, ausgeschlossen oder gar gemobbt zu werden. Mit Ausnahme ihres Cousins war Amalia nie auf Ablehnung gestoßen.
Amalia hatte, wie immer, den Versuch gemacht, mit ihren Problemen selbst fertig zu werden, bis Madame sie darauf ansprach. Sie hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte.
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