Irgendwie war ihr Versuch, dem Familienzirkus zu entkommen, schlecht bestrahlt.
Na, abwarten. Manche suchten Monate nach der idealen Wohnung, und sie jammerte schon vor der ersten Besichtigung herum?
Fritzi kam herein. „Habt ihr das eben mitgekriegt?“
„Was denn?“, fragte Hilde. Der Rest sah interessiert auf.
„Draußen brüllen sich ein Vater und die Lehnert an. Ich glaub, die gehen sich gleich an die Gurgel.“
„Weiß die Schulleitung Bescheid?“, fragte Hilde.
„Ja, leider. Bestimmt ist es gleich vorbei.“
„Und worum geht´s?“, fragte Katja.
„Um eine Sechs in Französisch, glaube ich.“
„Was frag ich auch!“, kommentierte Katja. Die Lehnert war berüchtigt für die miserablen Noten, die sie verteilte. Wer bei ihr kein Muttersprachler war und dabei den Akzent einer besseren Pariser Gegend hatte, konnte es vergessen. Am besten schaute er gleich, dass er keinen weiteren Fünfer bekam…
„Weißt du noch, vorletzten März?“, fragte Katja, und Hilde grinste. „Da hat sie sich ja schwer ins Knie gef- äh, geschossen!“
Katja wandte sich an Franz, der ja im vorletzten Schuljahr noch als Referendar sein Leben woanders gefristet hatte. „Da hat sie bei der Vorstellung der Leistungskurse ein so hohes Anforderungsprofil skizziert, dass sich dann nur zwei Schüler angemeldet haben. Natürlich hat sich Dr. Eisler geweigert, für zwei Leute einen Kurs einzurichten, und so gab es im letzten G9-Jahrgang keinen LK, den sie ja gerne selbst gehabt hätte. Und den ersten G8-Französischkurs haben ihr die Oberstufenbetreuer nicht gegeben. Boah, hat die geschmollt!“
Hilde lachte. „Sie soll doch froh sein, sie ist doch immer soo im Stress!“
„Ja, weil sie die einzige ist, die hier wirklich wichtige und wertvolle Arbeit verrichtet!“
Leider läutete es, bevor die Lehnert hereinkam. Mit Bedauern verzog Katja sich in den Unterricht, verarztete zwei ihrer insgesamt vier Sozialkundekurse und gab in der Elften die Schulaufgabe heraus, lobte den Kurs, tröstete die, die sich doch noch mehr Punkte erhofft hatten, und gab Tipps für die nächste Klausur. Außerdem hatte sie die lustigsten Patzer auf einem Blatt versammelt und ging sie mit dem Kurs durch. Das Gelächter über manche Stilblüten verdrängte dann doch die Enttäuschung.
Die Zwölfte war natürlich sauer – ein Ex in der neunten Stunde!
„Im Beruf müsst ihr auch von acht bis sechs fit sein“, kommentierte Katja ungerührt, „und die Mittagspause ist lange genug vorbei, dass ihr kein Verdauungsschläfchen mehr braucht. Also los jetzt, so schwer ist das nicht. Wer´s braucht, hier vorne stehen drei Lexika. Aber eigentlich müsstet ihr so zurechtkommen.“
Mürrische Stille senkte sich für die nächste Viertelstunde über den Raum, und Katja stellte zufrieden fest, dass sie zumindest eifrig das Blatt hinten und vorne vollschrieben. Allerdings hieß das noch gar nichts, das wusste sie aus bitterer Erfahrung mit Exen, in denen jede Menge haltlosen Blödsinns stand.
Sie sammelte schließlich ein, besprach mit dem Kurs eine weitere Szene und eine eher seltsame Interpretation dazu und entließ die SchülerInnen schließlich pünktlich um halb vier. Dann packte sie hastig zusammen und fuhr in die Holbeinstraße.
Jetzt war sie ja mal gespannt!
Das Haus sah eigentlich gut aus, blassgelbe Fassade mit weißen Verzierungen, als sei es ein Altbau, es war aber eindeutig fast neu. Und freistehend! Ordentliche Klingeltafel, weißlackierte Briefkästen neben der Haustür. Zwölf Einheiten, offenbar drei pro Etage. Sie ging rechts neben dem Haus vorbei und kam in einen Innenhof, in dem sich ein Fahrradständer befand, außerdem zwei Bänke und ein kleiner, jetzt aber verschalter Springbrunnen. Zwei große, alte Bäume standen nahe an der Mauer zum nächsten Grundstück. Ein Gebläse in der Ecke verriet ihr, dass es eine Tiefgarage gab.
Das wurde ja immer besser!
Sie kehrte vors Haus zurück, um den Verkäufer nicht zu verpassen, und sah auf die Uhr: Fünf vor.
Auf der anderen Straßenseite stand einer, der aussah wie Nick. Er gestikulierte heftig und schien sich mit einem anderen Mann zu streiten. Katja schlug den Mantelkragen hoch, damit er sie nicht erkannte, aber Nick hatte keinen scharfen Blick für seine Schwestern, er gehörte genauso wie Raphael nicht zu der Sorte Schwuler, die der beste Freund aller Frauen war. Der andere war so hellblond, dass er schon fast wie ein Albino wirkte, und machte ganz generell den Eindruck eines Bond-Bösewichts. Katja grinste in ihren Mantelkragen, als sie überlegte, ob er wohl auch so ein Stahlgebiss hatte wie Jaws .
Was hatten die beiden wohl miteinander? War Nick fremdgegangen? Nein, so leidenschaftlich wirkten sie beide nicht. Eher, als stritten sie sich um Geld; jedenfalls machte Blondie entsprechende Handbewegungen und Nick zog die Schultern hoch und breitete die Hände aus, als wollte er sagen Zieh mal ´nem nackten Mann das Hemd aus ! Fehlte nur noch, dass er seine Hosentaschen umkehrte, um zu zeigen, dass sie leer waren.
„Frau Herzberger?“
Sie fuhr herum. „Ja. Guten Tag.“
Der ältliche Mann im Lodenmantel schüttelte ihr die Hand. „Drexler, sehr angenehm. Haben Sie das Haus von außen schon angeschaut?“
„Flüchtig. Der erste Eindruck ist so übel nicht.“
„Warten Sie´s ab“, war die düstere Antwort.
Sie stiegen gemeinsam in den zweiten Stock – aber Katja hatte auch schon in einer Nische des Treppenhauses einen Lift gesehen. Sehr gut, vor allem für den Einzug.
„Im Keller gibt´s eine Waschküche. Zwei Maschinen, ein Trockner, ein Trockenraum“, wurde ihr beiläufig mitgeteilt, als Drexler stehen blieb und heftig schnaufend einen Schlüsselbund aus der Tasche zog. Bis jetzt verstand Katja noch nicht, warum die Wohnung umständehalber so billig sein sollte.
Die Tür öffnete sich quietschend, was Drexler mit einem entschuldigenden Blick quittierte. Na, da würde aber doch eine Messerspitze Schmierfett Abhilfe schaffen? Katja mochte zwar aus dem Elfenbeinturm kommen, aber mit so etwas kannte sie sich schon aus. Theoretisch wenigstens.
Im Flur roch es nach nichts, die Wände waren grau und schmierig, der Boden hatte kleine Löcher. Nun ja.
Links schien es ins Wohnzimmer zu gehen, halblinks in die Küche, halbrechts ins Bad und rechts ins Schlafzimmer.
Drexler steuerte zuerst das Wohnzimmer an, und dort stockte Katja dann doch der Atem – alle Wände waren dunkelviolett gestrichen, die Decke war silbern, und der Boden so voller Schleifspuren, dass wohl ein komplett neuer nötig war.
„Hm“, machte Katja – nicht, dass der Preis noch stieg! Der Raum war gut geschnitten, etwa fünfundzwanzig Quadratmeter groß und hell, praktisch eine ganze Wand bestand aus Fenstern und Balkontür, eine Wand eignete sich vorzüglich für Regale; es war genug Platz für einen Essplatz und Sofas. Dieses Lila allerdings…
„Ist das Westen?“, fragte sie nur, und Drexler bejahte.
Sie inspizierte den Balkon, der etwas über zwei Meter tief und fünf Meter breit war. Sehr ordentlich. Da war sogar Platz für ein Letto…
Die Küche war verdreckt, aber eigentlich ganz schön, wenigstens was die Möbel betraf – mittelgraue Hochglanzfronten mit Edelstahldetails, weiße Kacheln, alle Geräte – und grell pinkfarbene Wände. Dem Kachelboden fehlte nichts als ungefähr zwanzigmal Aufwischen. Katja machte wieder „Hm“, und Drexler wand sich.
„Ganz verstehen tu ich das ja nicht“, sagte sie dann. „Wieso haben Sie die Wohnung nicht einfach neu streichen und professionell putzen lassen? Dann müssten Sie doch mit dem Preis nicht so runtergehen?“
„Ach, wissen Sie…“, seufzte Drexler, „das war meine erste Immobilie. Von unserem Haus abgesehen, meine ich. Ich hab mir das recht schön vorgestellt, ich vermiete, jeden Monat kommt Geld aufs Konto und tilgt den Kredit… und dann haben die alles eingesaut und voll geschmiert und gezahlt haben sie dann auch nicht mehr. Und jetzt sind sie verschwunden und ich hab keine Lust mehr. Lieber tu ich das Geld aufs Sparbuch.“
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