Die Kaiserlichen suchten ihr Heil in der Flucht. Jedenfalls zunächst. Plötzlich wendete sich das Blatt. Mitten aus der brennenden Baumgruppe heraus raste ein eisiger Blitz, der direkt vor Macay in den Boden fuhr und ihn beiseite schleuderte. Die Kälte, die davon ausging, raubte ihm den Atem, brannte gnadenlos auf seiner Haut und ließ seine Glieder für einen Moment wie erfroren erstarren. Es dauerte, bis er sich wieder aufrappeln konnte.
„Verdammt, ein Magier!“, hörte er Rall sagen.
Schon fuhr der nächste Eisblitz zwischen sie. Diesmal traf es Zzorg, der taumelte, aber stehenblieb. Er konzentrierte sich. Wieder verließ eine Feuerkugel seine Hände. Diesmal war sie aber deutlich kleiner als die ersten beiden. Offenbar verließen den Echsenmenschen seine Kräfte. Die Kugel schlug zwischen den Bäumen ein. Genau im richtigen Moment, denn ein weiterer Eisblitz wurde abgelenkt und zischte folgenlos an Macay vorbei.
Während Zzorg sich auf den nächsten Zauber vorbereitete, spannte Rall seinen Bogen - er hatte als Einziger von den Dreien eine solche Waffe mitgenommen - und zielte mitten zwischen die Bäume. Zzorg ließ eine Feuerkugel fliegen, winzig diesmal im Vergleich zu der ersten, kaum größer als eine Murmel, und als sie die Bäume erreichte, schoss Rall einen Pfeil hinterher. Ein lauter Schrei bewies, dass er getroffen hatte.
Macay hielt es nicht länger. Seine Wut siegte über den Verstand. Er rannte mit gezogenem Kurzschwert auf die Baumgruppe zu. Ralls Pfeil und eine weitere kleine Feuerkugel zischten an ihm vorbei.
Zwischen einigen Büschen stand Macay plötzlich dem feindlichen Magier gegenüber. Es war ein hagerer, kleiner Mann mit Glatze, der einen hellen Umhang trug. Als er seinen bewaffneten Gegner vor sich sah, erschrak er nicht, sondern grinste nur.
Während Macay noch zögerte, den scheinbar Unbewaffneten mit dem Schwert anzugreifen, breitete der Magier seine Arme aus und zog sie dann ruckartig wieder an den Körper.
Macay glaubte, sein Brustkorb werde zerquetscht. Sein Herz pumpte aberwitzig schnell, ihm wurde schwindelig, aber er konnte sich auf den Beinen halten. Mit dem bisschen Kraft, das ihm noch blieb, schlug er mit dem Kurzschwert auf den Magier ein. In derselben Sekunde beendete einer von Ralls Pfeilen das Leben des Kaiserlichen.
Macay brauchte ein paar Minuten, bis er wieder ganz bei Sinnen war. Als er sich umsah, waren Rall und Zzorg bei ihm. Zzorg stand neben drei weiteren Toten: Einer war verbrannt, einer von einem Schwertstreich niedergestreckt und dem Dritten ragte ein Pfeil aus dem Hals.
Macay fuhr herum, als er in der Nähe Pferdegetrappel hörte.
„Sie flüchten“, zischte Zzorg verärgert. „So etwas darf sich Elitetruppe nennen. Lächerlich.“
Rall wandte sich an Macay. Schon seine Körperhaltung machte klar, was er von Macays Vorstürmen hielt: „Junge, du wirst diese Reise nicht überleben, wenn du weiter so unvernünftig handelst. Zzorg und ich haben schon viele Kämpfe dieser Art überstanden. Bleib hinter uns, wenn es gefährlich wird, verstanden?“
„Er ist mutig“, zischte Zzorg.
„Mutige Dummköpfe sind ganz schnell tote Dummköpfe“, erwiderte Rall erregt.
„Schon gut“, sagte Macay. „Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Passiert nicht wieder; versprochen.“ Dabei ahnte er, dass es die Anspannung der Tage seit der Flucht war, die sich entladen hatte. Er fühlte sich nun erschöpft, aber zufrieden und ruhiger als bisher.
Rall gab sich damit zufrieden. Sie untersuchten die Umgebung nach Fallen, fanden aber keine. An der Stelle am hinteren Rand des Gehölzes, wo die Pferde angebunden gewesen waren, entdeckten sie reichlich Blutspuren und ein paar zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände, die ihnen aber nicht von Nutzen waren.
Sie kehrten zu den Toten zurück. Es waren drei kräftige Männer in Lederrüstungen und der Magier. Keiner von ihnen trug ein Abzeichen oder sonst etwas, das auf seine Herkunft hindeutete. Bei dem Magier fanden sie allerdings ein schweres, goldenes Amulett.
„Ein Glücksbringer der Kaiserlichen. Uns würde das Amulett nur Unglück bringen“, sagte Rall und warf es achtlos hinter sich.
Macay ging hin und hob es auf. Es war eine Art großer Münze mit einem Wappen. In der Mitte steckte ein milchiger, kreisrunder Edelstein. Macay steckte das Amulett ein und nahm sich vor, es im nächsten Ort, den sie erreichten, zu verkaufen.
„Merkwürdig“, sagte Rall. „Ein menschlicher Magier wird normalerweise nur mit einer gut ausgestatteten, großen Kriegerschar losgeschickt, weil er sich - abgesehen von seinen magischen Fähigkeiten - nicht verteidigen kann.“
„Sie sind geflohen“, sagte Zzorg. Das schien ihn wie eine persönliche Beleidigung zu treffen.
„Das ist es ja. Kaiserliche Elitetruppen werden so gedrillt, dass sie niemals fliehen. Also sind das womöglich keine Elitetruppen. Kann der Kaiser inzwischen normale Soldaten auf den Nebelkontinent schicken? Womöglich haben sie ein Mittel, um den Gefahren des Kontinents zu entgegen. Das wäre schlimm.“
„Ich verstehe immer noch nicht, warum dieses Land so gefährlich sein soll“, sagte Macay. „Gut, es gab im Dschungel ein paar Tiere, denen ich nicht gerne wieder begegnen möchte, und vermutlich andere, von denen ich nichts weiß. Aber hier ist es doch so friedlich wie in einem großen Garten.“
Rall und Zzorg lachten. Es hörte sich nicht gut an. „Du hättest alleine vermutlich nicht einmal den kurzen Weg vom Rand des Dschungels bis nach Eszger überlebt“, behauptete Rall.
„Ich verstehe nicht, warum“, beharrte Macay.
„Der Nebelkontinent ist anders. Dieses Land lebt“, begann Rall in einem Ton, als sei es eine große Offenbarung. Er setzte sich und klopfte mit der Hand auf die Erde. „Nicht in dem Sinne, wie du es vom Kontinent des Kaisers kennst, und auch nicht so, wie man in der Karolischen Republik von Leben spricht. Alles, was du um dich herum siehst, lebt.“
Unsicher sah sich Macay um. Er saß in einem Gestrüpp mit Bäumen und Büschen. Durch die Lücken konnte er hinaussehen auf die hügelige, grüne Landschaft, über der langsam die Sonne unterging. Außer ein paar Vögeln in der Luft sah er nichts Besonderes.
Rall fuhr fort: „Uns, die wir vom Nebelkontinent stammen, und einigen der Menschen, die von den anderen beiden Kontinenten hierher gekommen sind, gewährt der Kontinent Schutz. Deshalb bist du sicher, solange du in Begleitung von Zzorg oder mir bist, oder anderen von unserer Rasse. Sobald du alleine unterwegs bist, wird der Nebelkontinent entscheiden, ob er dich auf seiner Oberfläche dulden möchte. Und die Antwort lautet sehr oft ‚Nein‘. Bei Bewohnern vom Kontinent des Kaisers noch häufiger als bei Karoliern. Der Dschungelstreifen an der Küste stellt eine Grenzzone dar, deshalb konntest du dort alleine überleben. Natürlich kann es sein, dass der Nebelkontinent dich anerkannt hätte, und du wärst hier durch die Landschaft marschiert, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Aber das wollen wir nicht riskieren.“
„Und der Kopfgeldjäger, die kaiserlichen Truppen, die menschlichen Bewohner von Eszger?“
„Für jeden, den du lebend hier gesehen hast, sind Dutzende gestorben. Es ist Glück oder Veranlagung, die manche Menschen hier überleben lässt, wir wissen es nicht. Und auch du wirst nicht wissen, ob du darüber verfügst, bis du es versuchst, und dann steht die Wahrscheinlichkeit schlechter als zehn zu eins.“
„Aber wo ist die Gefahr?“ Macay stand auf und drehte sich einmal um seine Achse. „Ich sehe sie beim besten Willen nicht.“
„Dort“, sagte Rall und deutete auf einen Baum in der Nähe. „Und über dir im Blätterdach. Draußen im Gras. Die Vögel, die oben am Abendhimmel nach Insekten jagen, sind mörderisch. Die Insekten, die sie fressen, töten dich in Sekunden. Alles am Nebelkontinent ist tödlich. Sogar dieser Apfel könnte in dem Moment, wo du hineinbeißen willst, entscheiden, dass er ein Gift enthalten möchte, das dich umbringt.“ Er warf Macay den Apfel zu.
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