Rall wandte seine Fähigkeiten an und konnte zumindest einige von ihnen ruhig stellen und befragen. Die Antworten ließen Schlimmes befürchten: Ballaram hatte bei seinen Verkaufsgesprächen gezielt Erkundigungen über Fremde in der Stadt eingezogen. Er hatte von Macay, Rall und Zzorg erfahren und angeboten, demjenigen eine Dosis Lassach zu schenken, der ihm etwas über die Pläne der Drei verraten konnte. Da jeder in Eszger von ihrer Absicht gehört hatte, zur Westküste zu gehen, wusste das nun auch Ballaram.
„Es besteht höchste Gefahr“, sagte Zzorg. „Wir müssen sofort abreisen.“
„Du hast recht“, bestätigte Rall. „Wir brechen morgen in aller Frühe auf. Und wir werden nicht wie geplant direkt nach Westen gehen. Ich schlage vor, wir wenden uns zunächst nach Südwesten, wo wir durch das Gebiet der Echsenmenschen kommen. Sie sind verschwiegen. Unsere Chancen, von den Kaiserlichen nicht entdeckt zu werden, sind dort höher.“
„Ich bin dankbar, dass ihr das so seht“, gab Mirjam zu. „Denn so schwer es mir fällt, dies unseren Rettern zu sagen: Jeder Tag, den ihr in Eszger verbringt, stellt eine Gefahr für die Stadt dar.“
„So sehe ich das auch. Macay, bist du einverstanden?“
„Ja. Wir reisen morgen früh ab.“ Macay wollte nicht zugeben, wie sehr ihn das Zusammentreffen mit Ballaram erschreckt hatte.
Sie brachen im Morgengrauen auf. Macay, Rall und Zzorg waren gut ausgestattet mit Waffen und Proviant. Als Wasservorrat genügte jedem eine Feldflasche am Gürtel, denn in den nächsten Tagen würden sie viele Bäche und Quelltümpel finden, in denen es trinkbares Wasser gab.
Verabschiedet wurden sie von Mirjam, die sie ein paar Schritte hinaus aus dem Nordtor begleitete. „Ihr werdet immer willkommen sein in Eszger“, sagte sie feierlich. „Eure Taten sollen nie vergessen werden.“
„Vielen Dank. Wir werden sicherlich die Gastfreundschaft dieses Ortes auch künftig zu schätzen wissen“, entgegnete Rall in eben solchem Tonfall. „Es tut mir leid, nun zu gehen, bevor ein Heiler eingetroffen ist, der euch zur Seite steht.“
„In wenigen Tagen wird einer eintreffen. Jung, aber bereits erfahren. Macht euch deshalb also keine Sorgen.“
„Sehr gut. Das wird uns eine Beruhigung sein auf unserem Weg.“
Macay wurde ungeduldig. Im Stillen fragte er sich, was dieses förmliche Gerede eigentlich sollte.
Rall rückte seinen Rucksack zurecht und fuhr fort: „Wir werden auf dem kürzesten Weg gen Westen ziehen, um über das Mittelgebirge Port Hadlan zu erreichen, bevor der Sommer richtig heiß wird.“
Macay wollte ihm widersprechen, denn sie hatten ja ausgemacht, nach Südwesten zu gehen, um möglichen Häschern der Kaiserlichen zu entkommen.
Doch Rall warf ihm einen warnenden Blick zu. Dann wies er mit einer kleinen Bewegung der Augen nach rechts. Dort stand ein Baum, umgeben von ein paar Büschen und hohem Gras. Mehr war in der Morgendämmerung nicht zu erkennen.
Während sich Mirjam und Rall weiter in gestelztem Ton unterhielten und Zzorg schweigend danebenstand, als ginge ihn das alles nichts an, behielt Macay unauffällig den Baum im Auge. Nach einer Weile glaubte er eine Bewegung zu sehen, und als er sich darauf konzentrierte, nahm er schließlich die Konturen eines menschlichen Kopfes wahr. Dort verbarg sich ein Mann, der die Abschiedsszene belauschte! Warum gingen Rall und Zzorg nicht gegen den Lauscher vor, der vermutlich ein Spitzel der Kaiserlichen war?
Macay hätte am liebsten sein Kurzschwert gezogen und den Mann zur Rede gestellt. Doch Rall war offenbar anderer Ansicht. Er sprach weiter davon, schnell nach Westen zu ziehen. Er wollte für den Lauscher eine falsche Spur legen.
So war Macay nicht mehr überrascht, als sie zu guter Letzt Mirjam noch einmal zuwinkten und nach Westen marschierten. Schweigend gingen sie gut eine Stunde auf die Berge zu, bevor Macay vorschlug, nun könnten sie nach Süden schwenken.
„Nein“, sagte Rall. „Wir gehen weiter nach Westen, bis wir wissen, was der Gegner plant.“
„Wer war dieser Spion?“
„Ballaram“, antwortete Rall. „Sein Geruch war unverkennbar.“
„Was!“, schrie Macay. Er drehte sich um und wollte zurückrennen.
Rall hielt ihn fest. „Lass ihn. Er wird den Kaiserlichen alles so berichten, wie wir es gesagt haben. Das kann ein Vorteil für uns sein.“
„Aber wir könnten versuchen, aus ihm herauszubekommen, wer ihn geschickt hat!“, protestierte Macay.
„Nein. Zu gefährlich. Er ist sicherlich nicht alleine hier. Wahrscheinlich lagern irgendwo in der Nähe von Eszger bereits Kaiserliche, die ihn vorausgeschickt haben.“
„Dann müssen wird Mirjam warnen.“
„Sie weiß es bereits. Zu dieser Stunde wird Eszger schon wieder evakuiert. Die Bewohner ziehen sich in den Wald zurück, nur ein paar Bewaffnete werden versuchen, den Ort zu schützen. Hoffentlich lassen die Kaiserlichen Eszger in Ruhe, wenn sie von Ballaram erfahren, dass wir nicht mehr dort sind.“
Macay sah sich um. Die Morgensonne schien hell auf den unbefestigten Weg. Hinter ihnen waren keine Verfolger auszumachen. Nichts bewegte sich in ihrer Umgebung außer den Vögeln in der Luft.
„Sie werden nicht von hinten kommen“, sagte Rall. „Ich vermute, die Kaiserlichen haben einen Stoßtrupp hier in der Nähe. Klein, gut bewaffnet und mit schnellen Pferden ausgestattet. Wenn ich der Anführer dieses Stoßtrupps wäre, würde ich die Flüchtlinge ungesehen überholen und eine Falle für sie aufbauen.“
„Warum biegen wir dann nicht gleich nach Süden ab?“, wollte Macay wissen. Die Gelassenheit, mit der Rall von den kaiserlichen Soldaten sprach, ärgerte ihn.
Zzorg antwortete an Ralls Stelle: „Wir wollen ihrer Falle nicht ausweichen.“
„Ihr wollt absichtlich ...“ Macay verschlug es die Sprache. Er blieb stehen und sah seine beiden Begleiter mit großen Augen an.
„Genau. Wir sind stark genug, um mit ihnen fertig zu werden“ Rall zeigte nach vorne. „Wir gehen weiter, bis die Kaiserlichen uns auflauern. Dann müssen wir nicht nach ihnen suchen. Sie überfallen uns, wir überwältigen sie, fragen sie aus und setzen dann unseren Weg in aller Ruhe Richtung Südwesten fort, wo wir vor ihresgleichen sicherer sind.“
Da musste Macay erst einmal schlucken.
Wenig später war es so weit. Sie verließen eine Grasebene und stiegen einen Hügel hoch, der mit Büschen und Bäumen bewachsen war. Plötzlich blieb Rall stehen und ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten. Zzorg stellte sich auf seinen kurzen O-Beinen besonders breit hin und machte ein paar ausgreifende Bewegungen mit den Armen. Rall begann, etwas vor sich hinzumurren, das Macay nicht verstehen konnte.
„Was ist?“, fragte Macay. Er bekam keine Antwort, also tat er es seinen Begleitern nach und legte sein Gepäck auf den Boden. Unsicher zog er das Schwert und sah sich um. Er konnte keinen Feind erkennen.
Plötzlich tat sich etwas in einer Baumgruppe, unter der viel Gestrüpp wucherte. Sie lag außer Pfeilschussweite vor ihnen. Männer wurden erkennbar, von denen einige stolperten, als wären sie betrunken. Sie rannten auf die drei Reisenden zu, und als sie nahe genug waren, spannten sie ihre Bogen und schossen.
„Sie sind verwirrt“, sagte Rall. „Mein Spruch hat gewirkt. Zzorg, du bist dran.“
Zzorg hielt seine Hände halboffen vor den Bauch, die Handflächen nach vorne verdreht, als würde er einen Ball halten. Eine feurige Kugel verließ seine Hände. Sie fuhr zwischen die Bogenschützen und explodierte. Die Männer fielen mit brennender Bekleidung zu Boden oder rannten schreiend weg. Eine zweite Feuerkugel raste direkt in die Baumgruppe und entzündete das Holz der Bäume. Weitere Männer rannten heraus.
Rall murmelte wieder seine Beschwörungen. Macay konnte dem Kampf nur fassungslos zusehen.
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