Es begann zu regnen, als wir der Nähe einer chinesischen Versorgungsstation unsere Zelte aufbauten. Die schwarzen Wolkenfetzen schienen die Wagen- und Zeltdächer zu berühren, und eine Stimmung melancholischer Weltverlorenheit machte sich breit. Sogar die Mitglieder der chinesischen Straßenarbeiterbrigade, die mit uns in der Versorgungsstation übernachteten, saßen mit langen Gesichtern vor ihren Nudelsuppen und rauchten eine Zigarette nach der anderen. Die heißen Quellen, der Stolz des Ortes, wirkten wie schmutzige Ausflüsse aus der Unterwelt. Zigarettenschachteln und Dosen schwammen im modrig-warmen Wasser, so dass wir auf ein Bad verzichteten und uns so schnell wie möglich in unsere Zelte zurückzogen.
In dieser Nacht wachte ich auf und hörte, dass sich der abendliche Regen zu einem regelrechten Sturm entwickelt hatte. Es krachte und donnerte, der Wind zerrte an den Zeltwänden, und der Boden unter unseren Isomatten war bereits vollkommen durchnässt. Zum ersten Mal auf einer Reise empfand Furcht - Furcht vor der Landschaft, die fremdartiger war als alles, was ich bisher kennen gelernt hatte, Furcht aber auch vor den Unwägbarkeiten der Reise, die mit der zunehmenden Schneeschmelze immer riskanter wurde.
Am nächsten Tag regnete es ohne Unterlass in einer Weise, in der ich es noch niemals erlebt hatte. Ich kannte den Regen Afrikas, der wie ein feuchtes Kissen war, eine Epiphanie der Fülle, in der man sich getrost verlieren konnte, ich kannte den Regen des Nordens, der ein geduldig-gnadenloser Regen war ohne jeden Trost, ein Regen, der das Herz auswusch und alle Farben zum Verschwinden brachte, so dass man fast vergessen könnte, dass es eine Sonne gab - einen Regen wie in Tibet jedoch hatte ich noch nie erlebt. Der Regen fiel in langen Fäden und bildete einen Vorhang aus purer Nässe, hinter dem man die Umrisse der umgebenden Berge nur noch ahnen konnte. Der Regen war weder so warm wie in Afrika, noch so kalt wie im Norden, sondern beides - er beinhaltete die Ahnung des Eises, in das er sich verwandeln würde, wenn es nur wenige Grade kälter wäre, und die Ahnung von Dampf und Nebel, in den er sich verlieren würde, sobald es der Sonne auch nur für kurze Zeit gelänge, die Wolkenwände zu durchbrechen. Es war fast so, als käme das Wasser von allen Seiten, es kam aus den Bergen die abschüssigen Bachläufe herabgeschossen, es suchte seinen Weg in der Ebene, es spritze hoch, wenn wir zum hundertstenmal die Riesenpfützen und Furten durchfuhren, und es kam ohne Unterlass aus einem trüben Himmel, der sich wie eine nasse, schwarze Wolkendecke über dem tibetischen Westen ausgebreitet hatte. Stunde um Stunde war von der Umgebung außer den Umrissen der Berge und der undeutlichen Straßenführung kaum etwas zu erkennen. Nur einmal passierten wir eine weitere chinesische Straßenarbeiterbrigade, diesmal jedoch nicht an einer Raststation sondern auf freiem Feld. Der Nässe und der Kälte anheimgegeben arbeiteten die Söhne der Han auch in diesem abgelegenen Winkel Tibets an einer der rätselhaftesten chinesischen Obsessionen, nämlich der Besessenheit, jeden Winkel ihres Riesenreiches, sei es Hochland, Wüste oder Feuchtland, mit Straßen zu durchziehen und damit zu zähmen. Waren die chinesischen Wanderarbeiter, die für einen Spitzenlohn nach Tibet gingen, mit jenen römischen Kolonisten vergleichbar, die einst an den Grenzen des Römischen Reiches zuerst die Straßen bauten, ehe sie sich niederließen? Oder glichen ihre Bemühungen einer Sisyphusarbeit, weil im Tal des Tsangpo eine Straße niemals ganz vollendet werden kann? Auf jeden Fall sahen die Chinesen wie Verbannte aus, verloren und heimwehkrank nach den Tälern von Yünnan oder den Gärten von Suzhou blickten sie unseren Wagen hinterher.
Die große Überraschung erwartete uns am Nachmittag. Übergangslos, von einer Minute zur nächsten, war der Himmel aufgerissen, und unter der plötzlichen Wärme der Hochlandsonne begann das ganze Tal zu dampfen. Alle Felsen, Bergrücken, Häuser oder Felder schienen plötzlich von einem durchsichtig-nebligen Film umgeben zu sein, während zwei prachtvolle Regenbogen den Himmel wie ein Weltentor überspannten. Von der vollgesogenen feuchten Erde stiegen feine weiße Nebel auf und klumpten sich wie kompakte Dampfinseln zusammen, so dass die Hochlandwiesen plötzlich wirkten, als wären der Erde tausend kleine Gebetsfahnen zu Ehren Buddhas entsprungen.
Nach einer kurzen Fahrt durch eine aufklarende Landschaft aus weißem Nebel und Licht erreichten wir hinter Saka wieder den großen Strom, der nun wie ein riesenhafter See das ganze Tal erfüllte. Majestätisch war der Schwung seiner Linien, manchmal waren Fischer zu sehen, Ziegenherden weideten an seinen Ufern, und für einen Augenblick hätte man fast vergessen können, dass man sich nicht im Tiefland sondern auf dem Dach der Welt befand. Aber eben nur für einen Augenblick, denn so unvermittelt wie Licht und Wärme gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Kaum hatten wir den gesichtslosen Ort hinter uns gelassen, waren die flammenden Farben des späten Nachmittags erloschen und einer bittergrauen Kälte gewichen, die sich wie ein unsichtbarer Raureif über alles legte, was sich im Tal bewegte. Bitterkalt war es, als wir hinter Saka unsere Zelte auf einer Hochlandwiese aufschlugen, bitterkalt war es, als wir unsere Nudeln im Küchenzelt aßen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe es im Daunenschlafsack warm wurde. Ich dachte an Lama Govinda, der nicht nur die unglaublichen Wetterumschwünge im Hochland von Tibet beschrieben sondern auch ihre Auswirkungen auf das menschliche Träumen untersucht hatte. Govinda war aufgefallen, dass er nach überraschenden Wetterumschwüngen sehr intensiv und plastisch von weit zurückliegenden Kindheitsphasen geträumt hatte, ein Phänomen, das er damit erklärte, dass unser Bewusstsein möglicherweise auf atmosphärischen Druck reagierte, so dass mit zunehmender Druckintensität immer tiefere Schichten unseres Bewusstseins in den Bereich unserer Traumwahrnehmung gelangten. In Tibets großen Höhen, so Govinda, sei der Organismus für derartige Zusammenhänge offenbar besonders sensibilisiert, so dass es kein Fehler sei, auf die Traumgesichter zu achten, die uns in Tibet erscheinen. Mit diesen Gedanken fiel ich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Leider konnte ich mich am nächsten Morgen trotz intensiven Bemühens an keinerlei Traumfragment erinnern. Als ich Frank beim Frühstück fragte, wovon er in der letzten Nacht geträumt hatte, antwortete er: “Von meiner Eigentumswohnung in Stuttgart. Ich habe die Heizung auf die höchste Stufe gestellt.“
Am diesem Tag wurde die Landschaft noch verzauberter. Risse, Schluchten, aufgeborstene Abhänge, ineinander verschobene Hügel, isolierte Seen und Sumpflandschaften wechselten einander ab oder kombinierten sich zu kuriosen Vexierbildern aus allen Weltteilen. Mal kam es uns vor, als durchführen wir eine Urzeit vor der Erschaffung des Menschen mit nichts anderem als Feuchtigkeit, Felsen und Wolken. Dann erinnerten die mächtig angeschwollenen Uferpassagen des Tsangpo an die üppigen Szenerien Südwestchinas, nur das gänzliche Fehlen von Bäumen zeigte, dass wir uns auf einer Höhenlage von über viertausend Metern befanden. Nur wenige Kilometer vom Ufer des Tsangpo entfernt war dann wieder alles lebensfeindlich, eiskalt und steinig - geradeso wie man sich die Antarktis vorstellen mochte, wenn der Schnee am Südpol jemals schmelzen sollte. Am unwirklichsten wurde es schließlich, als wir inmitten dieser eng verklammerten Welt von Feuchtigkeit und Dürre an kleinen Miniaturwüsten vorüberfuhren, an gelbweißen Sicheldünen von imponierenden Ausmaßen neben fetten, von den Gewässern des Tsangpo gespeisten Weiden und vor dem tiefdunklen Horizont des südasiatischen Monsuns.
Außer Raka, Saka, Donghba und Barga existierten auf einer Strecke von vielen hundert Kilometern nur winzige Siedlungen, und selbst diese Ortschaften wirkten auf der Durchreise wie schreckliche Orte der Verbannung, in denen den ansässigen Chinesen kein anderer Trost zu bleiben schien als exzessiver Alkoholgenuss. Die Chinesen am Oberlauf Tsangpo waren bedauernswerte Wesen, denn wenn sie nicht gerade ihren Sold vertranken, weil sie vor Heimweh schier vergingen, mussten sie Häuser ausbessern und Straßen bauen.
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