1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Doch das wunderbare Schattenspiel von Wolken und Licht beleuchtete eine Szene, an der Govinda wenig Freude gehabt hätte. Bemerkenswert an der Stadt Lhatse waren heute nicht mehr ihre Klöster und Gipfeltschörten, sondern die neue Tsangpo-Brücke im Westen und die einzige Tankstelle weit und breit, ihre Herren waren chinesische Soldaten und uigurische Händler. Die Tibeter aber, die wie in allen größeren Siedlungen Tibets bald auch in Lhatse in der Minderheit sein werden, lebten nach wie vor in ihren Lehmhäusern und steckten sich Zweigenbüschel auf die Dächer, die sie vor den bösen Geistern beschützen sollen. Nach dem Glauben der Tibeter würden sich die bösen Geister in diesen Büscheln zerheddern, und sollte es einmal einem besonders perfiden Geist gelingen, diese Schutzvorrichtung zu durchbrechen, würde er an den Yakhörnern scheitern, die die Tibeter vor ihren Türen als ultimativen Abwehrzauber aufgetürmt haben.
Leider hatten den Tibetern diese Zaubermittel gegen die chinesische Okkupation nichts genutzt. Neben den zahlreichen neuen Straßen und Pisten, die die Chinesen zur Sicherung ihrer Macht durch das ganze historische Tibet gezogen hatten, verrotteten nach über zwei Generationen der Fremdherrschaft die überwiegende Mehrzahl der Klöster im Tal des Tsangpo. Ob man sich von Lhatse aus westwärts zum Kailash wandte, südöstlich nach Gyantse oder nordöstlich nach Lhasa - die neuen Herren hatten sich an den Kreuzungen der neuen Straßen häuslich eingerichtet und überwachten jedes Auto, jedes Pferdefuhrwerk oder jeden Wanderer, die sich von irgendwoher nach irgendwohin bewegten. Und erlebte man die schikanöse Langsamkeit, die quälende Arroganz, mit der sich die jugendlichen Angehörigen der Besatzungsarmee als denkbar schlechte Botschafter ihres Volkes erwiesen, konnte man die Kluft ermessen, die die chinesischen Einwanderer und die Tibeter trennte.
V An den Ufern des Tsangpo
Als wir am nächsten Morgen auf der einzigen intakten Fährstation im Umkreis von Hunderten von Kilometern den Tsangpo im Westen der Stadt Lhatse überquerten, war das Wetter wieder umgeschlagen. Konturenlos lag ein schwarzer Himmel über dem Tsangpotal und verschluckte mit seinen herabhängenden dunklen Wolkenfetzen die Berge rund um Lhatse. Im Himalaja hatte der Sommermonsun nun seine volle Kraft entfaltet, und es war möglich, dass die die Straßen, die wir noch vor wenigen Tagen passiert hatten, nun überflutet waren.
Entkommen waren wir dem Sommermonsun aber trotzdem nicht. Denn obwohl die höchsten Kämme des Himalaja das Hochland von Tibet vor den Regenmassen des indischen Monsuns bewahrten, erreichten seine Ausläufer das Tal des Tsangpo. Hier sorgte seine Wärme nicht nur für einen ergiebigen Sommerregen und für eine erstaunliche Vegetation auf einer Höhe von immerhin viertausend Metern, sondern spätestens ab Juli für den Beginn der Schneeschmelze im Transhimalaja. Alle Zuflüsse, sogar die in Winter und Frühjahr oft gänzlich ausgetrockneten Wadis, schwollen dann an: Rinnsale verwandelten sich in reißende Gebirgsbäche, ehe sie zu veritablen Flüssen wurden, die spätestens im August den normalen Reiseverkehr im Tal des Tsangpo regelmäßig fast völlig zum Erliegen brachten.
Wie weit die Schneeschmelze schon fortschritten war, mussten wir schon wenige Stunden hinter Lhatse erkennen. Gelbbraune Wassermassen schossen mit bedrohlicher Kraft durch Landengen und Schluchten, und die Schotterpisten, die meist nur ein bis zwei Meter über dem Pegelstand des Wassers am Rande eines Bergrückens entlangführten, waren an den verschiedenen Senken bereits überschwemmt. Als wir an der erste Straßenüberflutung, die sich im Rückblick als die harmloseste erweisen sollte, eintrafen, glaubte ich allen Ernstes, die Reise sei zuende. Deprimiert ergriff ich meinen Rucksack, verließ den Wagen und nahm auf einer Anhöhe Platz. Wie Xerxes vom Ufer aus den Untergang seiner Flotte vor Salamis beobachten musste, so wollte auch ich das Absaufen von Lastwagen und Jeep mit ansehen, ein skurriler Gedanke, der mir die ganze Unwirklichkeit unserer Planung bewusst machte. Wie hatten wir nur ernsthaft erwarten können, durch diese amphibische Wasserwelt nach Westen vorzustoßen? Sogar Frank hatte den MP3-Player ausgestellt und saß mit blassen Gesicht neben mir.
Doch zu unserer maßlosen Überraschung gelang es Jeep und Lastwagen mühelos, die überfluteten Vertiefungen zu passieren. Ich sah die Räder der Fahrzeuge im Wasser versinken, der Jeep schwankte in der Gegenströmung ein wenig, doch er kam genauso problemlos durch das Wasser wie der Lastwagen. Auch wenn die ersten erfolgreichen Wasserpassagen dieser Art unsere Stimmung wieder etwas hoben, merkten wir doch bald, dass die Hauptstraßen, denen wir eine knappe Woche lang nach Westen folgen wollten, wirklich eindeutig nur auf der Landkarte zu erkennen war. In unserer tibetischen Wirklichkeit aber waren sie nichts weiter als ein Sammelsurium kümmerlicher Schlammpisten inmitten mäandernder Flussläufe oder ein Schotterstraßenwirrwarr in weitauseinandergezogenen Tallandschaften. Sogar für Topchin und Kelsang, die die Route zum Kailash bereits mehrfach gemeistert hatten, war die Orientierung schwierig, denn die Landschaft wurde, je weiter wir nach Westen fuhren, immer mehr zu einer sich auflösenden Welt aus erstarrtem Schlamminseln und Hügeln, zwischen denen unzählige Wasserrinnsale nach Osten flossen, ein Landschaftsbild, das in wenigen Wochen unter den Fluten der Schneeschmelze ganz einfach versinken würde, um am Ende des Sommers in vollkommen anderer Gestalt wiederzuentstehen.
Aber auch schon vor dem Höhepunkt der Schneeschmelze wurden die Wasserläufe, die wir durchqueren mussten, immer beängstigender. Bald waren es nicht mehr nur abgesunkene Schotterpisten, die zwischen Flussläufen und Bergrücken zu meistern waren, sondern richtige kleine Flüsse, die uns die Weiterfahrt versperrten. Topchin, der mit dem großen Lastwagen immer zuerst die Furt überquerte, aber schien nie auch nur eine Sekunde zu zögern. Zwanzig bis dreißig Meter breite Zuflüsse durchfuhr er locker und ohne erkennbare Schwierigkeit, um, auf der anderen Seite angelangt, zu stoppen und Kunga einige Zeichen zu geben, damit er mit dem Jeep nachkommen konnte. Mehr als einmal hätte ich, während der Überfahrt im Jeep sitzend, mit der Hand aus dem Fenster das Schmelzwasser berühren können - einmetertief preschte das allradangetriebene Fahrzeug durch das Wasser, doch das einzige, was dabei nass wurde, waren die Umschläge von Kungas graugrüner Anzughose. Über die Mühelosigkeit, mit der wir an diesem Tag auch die furchterregendsten Wasserbarrieren überwanden, konnte ich mich nicht genug wundern. War es möglich, dass die Naturgesetze in viertausend Höhenmetern nicht mehr galten, so dass selbst voll beladene Fahrzeuge scheinbar schwerelos ganze Flüsse durchqueren konnten? Waren die Fahrzeuge im Hochland leichter als im Tiefland? War das Wasser permeabler oder der Boden härter? Doch die Lösung war viel einfacher. „Es ist nicht die Menge des Wassers, die Probleme bereitet“, erklärte Kelsang, „sondern der Schlamm, der mit der Schneeschmelze herunterkommt und sich am Flussgrund absetzt. Solange die Fahrzeuge im Wasser über Kies und Steine fahren, kommen sie voran. Erst wenn sich ein bis zwei Wochen nach Beginn der Schneeschmelze eine Schlammfurt in der Mitte der Flüsse gebildet hat, wird es gefährlich.“
Es war eine schier endlose Zickzackreise durch Mulden und Riesenpfützen, durch Flüsse und Wasserarme, vorüber an den Spuren verrutschter Hügel, die manche Schotterpisten für immer unter sich begraben hatten, und vorbei an kleinen Seen, die wie erloschene Diamanten unter einem trüben Himmel lagen. Bald verließen wir den unmittelbaren Einzugsbereich des Flusses und durchfuhren eine Landschaft voller fleckig bemooster Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckte. Kegel, Würfel, Rauten, eine archaische Felsengeometrie, von einer launigen Hochlandnatur geschaffen, wechselten ab mit sanft begrünten Buckelbergen. Schließlich wurden die Täler breiter, die Berge flacher und begrünter, bis wir die Kreuzung von Raka erreichte, wo sich die Nord- und Südrouten des tibetischen Fernverkehrs trafen. Überladene Lastwagen, deren Begleitpersonen wieder wie lebende Stabilisatoren links und rechts an die Planen hingen, schaukelten durch die schlammigen Furten, tibetische Nomaden standen am Wegesrand und grüßten die Fahrzeuge wie rätselhaften Boten aus einer unbekannten Welt, und der neblige Dunst links und rechts der Straße verzerrte die Umrisse von Yaks, als führte die Reise mitten hinein in ein Reich voller Gespenster.
Читать дальше