1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Kelsang kam aus ihrer Schlafkammer und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, als ich die ersten wackeligen Schritte im Hof unternahm. Sie reichte uns einen Becher Buttertee, lachte und erzählte von Sir Edmund Hillary, dem Erstbesteiger des Mount Everest, der eine Gruppe neuseeländischer Politiker durch den Himalaja führen wollte und als erster höhenkrank wieder ins Tal geflogen werden musste. Frank, der jeden Extrembergsteiger bewunderte, zog einen Flunsch, ich dagegen fand es nett, dass Kelsang das sagte.
Sofort nach dem Frühstück fuhren wir weiter. Das Wetter klarte auf, und auf unserer Reise nach Norden passierten wir eine schier endlose Kette grün bemooster und wunderlich geformter Berge, hier und da mit zerstörten oder verfalleneren Dzongs an ihren Abhängen. Sonnenstrahlen, Nebel und Schatten illuminierten die Szene mit einem surrealistische Anhauch von Urerde und Vorzeit, doch die in regelmäßigen Abständen postierten chinesischen Straßenkontrollen holten uns schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Einsame jugendliche Figuren mit Hundegesichtern, unglücklich, verbiestert, ungeliebt und fern der Heimat, standen neben ihren Wärterbuden und überwachten den Fernverkehr. Gerade einmal zwanzigjährige Wehrpflichtige, denen man in der Heimat den Hochmut gegen die „rückständigen Tibeter“ überaus erfolgreich eingeimpft hatte, bellten unwirsche Anweisungen, fummelten an unseren Rucksäcken herum, kramten in den Vorräten und verhörten Kelsang in unverschämter Tonlage. Immerhin halten sich die chinesischen Soldaten bei ihren Kontrollen etwas zurück, wenn Touristen anwesend sind, so dass wir ungeschoren davonkamen und nach Shekar weiterfahren konnten.
Wie eine Hochlandoase, von Hochgebirgsbächen und Feldern umgeben, lag der der Dzong von Shekar in einer weiträumigen Tallandschaft. Die gewaltige Befestigungsanlagen der Burg, die allen Belagerungsmaschinen des tibetischen Mittelalters getrotzt haben werden, beschützten heute niemand mehr, stattdessen waren unterhalb des Dzongs in New-Tingri Dorfbewohner und Nomaden aus der gesamten Umgebung zwangsangesiedelt und in landwirtschaftliche Kooperative hineingepresst worden.
Immerhin hatte man sich dazu aufgerafft, das in der Kulturrevolution vollkommen zerstörte Kloster auf dem Burgberg wieder leidlich zu restaurieren. Die Gazellen, die dem Buddha lauschten, und das Rad der Vergeltung hatten wieder ihren Platz über dem Klostereingang gefunden, und die große Staue des Shakyamuni thronte im halberleuchteten Innenraum, als hätte es die verheerenden Überfälle der Roten Garden niemals gegeben.
Von einer Anhöhe oberhalb des Klosters aus war das Toben des Sommermonsuns in den südlichen Bergen gut zu erkennen. Eine schmutzigdunkle Wolkenwand blähte sich auf und komprimierte sich im Minutenwechsel, als bewache eine riesenhafte Zentrifuge aus Wasser und Dampf das Tor nach Tibet. Wir befanden uns in einer Zwischenwelt - noch nicht ganz Tibet, aber auch noch nicht China, nicht mehr Himalaja und noch nicht Transhimalaja, nur Himmel, Regen und Erde prägten diesen wunderlichen Platz. Nach Norden aber wurde es heller, die wirklichen Grenzen Tibets, die Ufer des Tsangpos, waren nahe.
Zunächst aber hieß es den letzten Pass zu überwinden. Während der Auffahrt zum über fünfausendzweihundert Meter hohen Lhakpa-La Pass sahen wir überladene Lastwagen, die wie Ozeandampfer durch tückische Schlammfurten schwankten, rechts und links von Mitfahrern, die an den Seitenplanen hingen, waghalsig ausbalanciert. Hagelstürme setzten ein, und plötzlich befand sich die schwarze Wolkenfront, die ich eben noch im Süden gesehen hatte, genau über uns. Mitten im Tag wurde es unvermittelt dunkel, als wollte die Welt untergehen. Wie Wesen aus einer anderen Welt standen Nomaden auf steinigen Feldern und blickten im Halbdunkel verwundert den Lastwagen hinterher, die sich die Passstraßen herauf- und herunterquälten.
Der Scheitel des Lhakpa La Passes war an diesem Tag nichts weiter als eine Regenfalle. Zerfetzte Wolken in allen dunklen Farbtönen jagten über einen leichengrauen Himmel, Gebetsfahnen flatterten im Sturm, als Topchin aus dem Fahrerhaus seines Lastwagens stieg und sich vor einer improvisierten Tschörte verneigte. Obwohl ein eiskalter Wind über die Anhöhen fegte, verweilten wir ein wenig an der Passhöhe, denn die historische Grenze des Schneelandes war erreicht. Ich kramte Lama Anagarika Govindas Buch „Der Weg der weißen Wolke“ aus meinem Rucksack und las die berühmte Stelle, in der Govinda den ersten Blick auf Tibet beschreibt. Der Wind pfiff mir schneidend kalt den Ärmel hoch, als ich die Stelle fand. „Und dann kam das große Wunder, das mich stets von neuem ergriff, so oft ich die Grenzen Tibets überschritt“, las ich. “Auf dem höchsten Punkt des Passes, auf den die Wolken in dunklen Massen zustürmten, öffnete sich der Himmel wie durch einen Zauberschlag, die Wolken lösten sich auf, und eine Welt leuchtender Farben entstand unter einem tiefblauen Himmel.“
Ganz so war es an diesem Tage leider nicht, aber schon wenige Kilometer hinter dem Lhakpa-La Pass verebbte der Sturm wie abgeschnitten. In steilen Windungen führte die Straße auf nur wenigen Kilometern tausend Höhenmeter tiefer, und die Veränderung, die die Landschaft dabei erfuhr, grenzte ans Wunderbare. Die tristen Bergrücken zeigten sich plötzlich von einem dichten Lebensgrün überzogen, Tschörten, Gebetsfahnen, und Getreidefelder umgaben kleine Siedlungen, knallgelbe Rapsfelder erstreckten sich links und rechts der Straße, bis sich die Hochgebirgskerbe öffnete und das große Tal des Tsangpo vor uns lag.
Mir schlug das Herz, als ich in der Nähe der tibetischen Fährstation Lhatse den Tsangpo zum erstenmal erblickte. Ich habe eine Schwäche für Flüsse, die Nährerinnen aller Kulturen, und wenn ich meine Hand in ihr Wasser halte, glaube ich den Rhythmus des Lebens zu spüren, das an ihren Ufern pulsiert. Ich weiß noch genau, wie lehmig sich der Nil anfühlte und wie seifig der Amazonas. Das Wasser des Tsangpo fühlte sich an wie eiskalter Stein, es war von einer kaum zu übertreffenden Reinheit und Transparenz.
Unter den großen Kulturströmen der Erde ist der Tsangpo der unbekannteste, und doch ist er der einzige, der gleich zwei komplett unterschiedliche Hochkulturen an seinen Ufern hervorgebracht hat, die tibetische an seinem Oberlauf und die bengalische an seiner Mündung. Bevor er sich nach seinem Durchbruch im östlichen Himalaja als Brahmaputra in das Tiefland von Bengalen ergießt, hat er sich im Hochland von Tibet bereits mit Hunderten von Schmelzwasserzuflüssen angereichert und an der Grenze von Himalaja und Transhimalaja eines der größten Erosionstäler der Erde geschaffen. Über Hunderte von Kilometern trennt dieses Tal wie eine gigantische Kerbe Himalaja und Transhimalaja, Süd- und Zentralasien, und wo es in vergleichbaren Höhenlagen wie etwa dem bolivianischen Altiplano nicht anderes gibt als lebensfeindliche Steinwüsten, ermöglichten die Gewässer des Tsangpo seit dem Anfang der geschichtlichen Zeiten nicht nur Getreide-, Gemüse- und Kartoffelanbau auf knapp unter viertausend Höhenmetern sondern auch die Entstehung einer der faszinierendsten Hochkulturen der Erde.
Wie zur Begrüßung auf dem Dach der Welt kam plötzlich die Sonne hinter den Wolken hervor. Der Himmel riss auf über dem großen Fluss, und wir befanden uns mit einem Mal in jenem Zwischenreich aus Wolken, Sonne und Schatten, das Lama Anagarika Govinda in seinem Tibet-Buch beschrieben hat: „Wir traten ein in eine Welt titanischer Felsen, schneebedeckter Gipfel und tiefgrüner Seen, zwischen denen tiefhängende Wolken und plötzliche Sonnendachbrüche ein wechselndes Spiel von Licht und Schatten schufen. Die Landschaft schien sich in einem Zustand dauernder Verwandlung zu befinden, als ob sie von Augenblick zu Augenblick neu erschaffen würde.“
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