„Genug jetzt!“, sagte Xundai energisch. „Granger Tschad, du hast einen schweren depressiven Anfall. Hervorgerufen vermutlich dadurch, dass du den Tod deiner Partnerin Rosie Burringer zu verdrängen versuchst. Nichts von dem, was du dir gerade vorgestellt und ausgemalt hast, entspricht der Realität. Die Yarra-chi sind keine Götter und die Menschheit ist kein Volk winziger Insekten, sondern es sind intelligente Rassen. Beide haben ihre Vorzüge, beide haben ihre Fehler, aber sie können zusammenarbeiten. Besonders, wenn es um gemeinsame Gegner geht, wie die Praan-Saat und die Scarabs, die vielleicht nicht in dieselbe Kategorie gehören.“
„Und woher soll ich wissen, dass du mich nicht anlügst?“, fragte Granger trotzig. Xundais Vermutung über sein Seelenleben hatte ihn getroffen. Er habe Rosies Tod nicht verarbeitet? Und wie er ihn verarbeitet hatte. Deshalb wollte er ja verhindern, dass so etwas wieder geschah und dass nicht noch mehr Menschen dieser Falle gewissenloser Superintelligenzen zum Opfer fielen.
Er hörte Brendans Stimme: „Nun ist es genug, Granger! Wir können darüber sprechen, wenn wir wieder unter uns sind. Aber jetzt sind wir hier, weil wir Xundai um Hilfe bitten wollen.“
„Vielleicht ist es nützlich, wenn ich eine Umgebung in euer Bewusstsein projiziere, die euch angenehm ist und eure Gedanken ablenkt“, sagte Xundai.
Im nächsten Moment befand sich Granger auf einer kleinen Wiese mitten in einem Laubwald. Neben ihm stand Brendan. Beide sahen sich erstaunt um. Der Wald war licht, die Sonne strahlte durch das Blätterdach, ein leichter Wind sorgte für ein angenehmes leises Rauschen in den Baumkronen. Um sie herum wuchs Farn, aber nur bis in Kniehöhe. Vögel zwitscherten und ein pelziges kleines Tier rannte raschelnd vor den beiden Menschen davon.
Gleich fühlte sich Granger wohler. Er atmete tief durch. „Auch wenn es nur eine Illusion ist, schön ist es allemal“, gab er zu. „Besser als die Marmorhöhle, die du das letzte Mal für mich gestaltet hast, Xundai.“
„Damals habe ich eine Umgebung geschaffen, die etwas ansprach, das ich tief in deinem Unbewussten verankert fand. Das war ein Fehler. Dieser Wald gleicht nicht dem, was in deinem Bewusstsein vorhanden ist, sondern dem, was du als Mensch vermutlich als angenehm und hilfreich empfindest. Ich habe dazugelernt. Wie gefällt es dir, Brendan?“
„Sehe ich dasselbe wie Granger?“
„Ja, ich gebe euch beiden dieselbe Illusion. Ihr könnt hier miteinander interagieren, als wärt ihr reale Wesen.“
„Und wo bist du?“, fragte Granger und sah sich um.
Xundai lachte. „Überall! Vergiss nicht, ich bin das Bewusstsein der Ökosphäre eines ganzen Planeten. Dieser Wald ist die Projektion eines Teils von mir. Ich bin die Bäume, die Farnsträucher, die Vögel, die Tiere.“
Langsam ging Granger ein paar Schritte weiter und sah sich um. „Wie groß ist der Wald?“
„Unendlich, wenn ich es will. Er ist ja nur eine Illusion. Fühlst du dich jetzt besser?“
Granger musste zugeben, dass seine ganze Stimmung sich gewandelt hatte. Schon das helle Grün des Laubs über ihm genügte, um ihm Hoffnung und Zufriedenheit einzuflößen.
„Wir waren beim Thema unabhängige Kolonialplaneten und deren Zukunft“, sagte Brendan.
Davon hatte Granger nichts mitbekommen, so sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen.
„Richtig. Die Wirtschaftsstrukturen, die von den Scarabs aufgebaut wurden, sind ausgefeilter, als es zunächst den Anschein hatte. Auf mehreren Dutzend Welten verteilt existieren Produktionseinrichtungen, die zusammen ausreichen, um eine mächtige Flotte zu bauen.“
„Das ist uns bekannt.“
„Außerdem existiert die gesamte Infrastruktur, um Einheiten zur Terraformung von Planeten auszurüsten. Und zwar viele. Die Scarabs wollten vermutlich schon in den nächsten Jahren damit beginnen, weitere Sonnensysteme für eine Besiedlung durch Menschen vorzubereiten. Dazu gehört auch die hohe Geburtenrate auf den bereits bewohnten Welten, die durch die Beeinflussung der Scarabs ausgelöst wurde.“
„Sie wollten als tatsächlich einen ganzen von Menschen bewohnten Gürtel hier im Perseus-Arm der Galaxis schaffen, um einen Puffer gegen das Vordringen der Praan-Saat zu haben?“
„So ist es.“
„Hast du Hinweise auf Produktionsstätten für Waffen gefunden?“, fragte Brendan.
„Die Orbitalwerften zum Zusammenbau von Kampfschiffen sind vorbereitet für den Einbau von fremdartigen Waffen“, antwortete Xundai. „Aber ich habe nichts über eine bestehende Lieferkette in Erfahrung bringen können. Noch nie ist so etwas Ähnliches wie eine Waffe von einem Trader transportiert oder irgendwo eingelagert worden. Zumindest weiß niemand davon.“
„Also wollen sie diesen Teil der Ausrüstung entweder selbst liefern oder sie haben die Produktion auf verstecken Planeten aufgebaut. Sicherlich werden sie verhindern, dass wir Menschen aus der Perseus-Kolonie ihre Waffentechnologie kennenlernen.“
„Wo kann man einen Planeten verstecken?“, fragte Granger dazwischen.
„Entweder, man macht es wie Uruvela und zieht sich in eine Falte der Raumzeit zurück, oder man nutzt einen natürlichen Schutz. Auch Xundai ist nur durch Zufall zu entdecken.“
Das stimmte. Granger hatte nicht mehr daran gedacht, dass diese Welt in einer galaktischen Dunkelwolke lag, die außerdem die ungewöhnliche Eigenschaft aufwies, Hyperfunk und Hyperortung zu blocken. Dazu kam noch, dass es innerhalb der Sprungreichweite moderner Raumschiffe nur einen einzigen Zugang gab, nämlich das gefährliche Fünf-Sonnen-System.
„Wie kann man so perfekt versteckte Welten finden?“, fragte er.
„Mit viel Geduld oder mit Hilfe der Yarra-chi“, antwortete Xundai. „Sie dürften über Technologien verfügen, mit denen man solche Verstecke orten kann.“
„Womit wir wieder bei der Frage sind, wie man zu den Yarra-chi gelangt“, sagte Brendan. „Das Wurmloch ist eine tödliche Gefahr. Es ist zu klein für unsere Raumschiffe.“
„Nein, es ist nicht zu klein“, behauptete Xundai. „Man muss sich ihm nur in genau dem richtigen Winkel mit der richtigen Geschwindigkeit nähern. Beides hängt ab von der Größe und Masse des Raumschiffs.“
„Aber wir wissen nicht, wie man diesen Winkel berechnet.“
Granger nickte zu Brendans Worten.
Xundai widersprach: „Doch, du weißt es! Uruvela hat dieses Wissen wie so vieles Anderes in deinem Kopf hinterlegt. Aber es taucht erst in deinem Bewusstsein auf, wenn es gebraucht wird. Denke in Ruhe und ernsthaft darüber nach, wie du das Wurmloch sicher nutzen kannst. Dann fällt dir die Lösung des Problems ein.“
Eine Fliege brummte an Grangers Ohr vorbei. Aus einem Reflex heraus schlug er nach ihr. Sie wich aus und flog nach oben davon. Seine eigenen Gedanken von vor einer halben Stunde rasten ihm durch den Kopf. Was hatte er eben getan?
Der Schock über seine unbedachte Handlung fuhr durch seinen ganzen Körper. Er richtete sich auf und rief: „Das wollte ich nicht!“
Es wurde heller. Er sah sich um und blickte in die verdutzten Gesichter der Menschen, die um sein Klinikbett standen. Nur Brendan Hollister lächelte verständnisvoll und zwinkerte ihm zu.
Kapitel 4
Ringas ungewöhnliches Raumschiff, geformt wie zwei hintereinander gesteckte Pfeilspitzen, kreiste in einem geostationären Orbit um einen Gasplaneten am Rande eines unbewohnten Sonnensystems. Sie hatte diese spezielle Umlaufbahn gewählt, weil sie so die Entfaltung der wunderbaren farbigen Sturmwirbel beobachten konnte, die in den oberen Schichten des Planeten abliefen. Allerdings war es so weit draußen im System bereits zu dunkel, um diese Schönheit mit normalen Augen sehen zu können. Die Sonne war zu fern. Aber Ringa verfügte über besondere Möglichkeiten, was das betraf.
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