Dr. Jörgens kam aus dem Zimmer linker Hand zurück und zuckte zusammen, als im Treppenhaus wüstes Geschrei ertönte. Mehr als „G´schwerl“, „ein Wort mitzureden“ und „kommt gar nicht in Frage“ war nicht zu verstehen – aber Hilde war klar, dass sich da Ohlmann gegen eine Hausbewohnerin unter siebzig wehrte. Ziemlich vergeblich allerdings.
„Kein angenehmer Nachbar“, murmelte er. „das tut mir ehrlich Leid.“
„Mit dem werde ich schon fertig“, meinte Hilde optimistisch. „Sie möchten die Wertgegenstände aufnehmen, nicht? Für meine Mutter?“
„Nur den Schmuck“, versicherte Jörgens. „Teppiche, Porzellan und so weiter gehören zum Inventar. Ich nehme es nur überschlägig auf, damit der Gesamtwert und damit die Erbschaftssteuer bestimmt werden können.“
„In Ordnung. Kann ich Ihnen dabei helfen oder soll ich mich einfach so mal umschauen?“
„Sehen Sie sich nur um. Ich kann mir schon denken, wo sich Wertgegenstände befinden.“
Hilde begann im Arbeitszimmer, sobald sie sich in die schwarzbraune Pracht traute. Schwere Regale, ein wuchtiger Schreibtisch, ein ebenso wuchtiger Stuhl… alles vollgestopft und mit Papieren, Zeitschriften und undefinierbarem Kram bedeckt. Das Zimmer war etwa drei mal fünf Meter groß und hatte die Fenster auf der Längsseite, schöne Fenster mit dunklen Sprossen. Die Spitzenstores mit den üppig über der Gardinenstange drapierten Gazewolken waren allerdings grauenhaft.
Hilde kam sich schon vor wie ein Henker, der diesen und jenen zum Tode verurteilt. Immerhin hatte Tante Martha das alles doch geliebt…
Aber sie hatte auch gewusst, dass Hilde anders dachte, sie hatte ja oft genug gesagt: Tante Martha, tu doch diese grässlichen Stoffwolken weg, es ist doch schade um die schönen Fenster! Und Tante Martha hatte gelacht.
Hieß das jetzt nicht: Hilde, mach mit der Wohnung, was du willst? Und schmeiß als erstes diese Gardinen raus? Genau das hatte sie gewollt, beschloss Hilde, und nahm ihre kritische Wanderung wieder auf.
Im Wohnzimmer traf sie auf Dr. Jörgens, der eine Schublade in der Schrankwand aufgezogen hatte und leise murmelnd hineinspähte. Von der Seite sah sie Silber funkeln. Alles, was zu einem gepflegten Bürgerhaushalt gehörte – sicher gab es irgendwo auch noch ein vollständiges Service für zwölf Personen – Meißen oder Nymphenburger. Naja, nicht ganz. Fürstenberg oder Thomas, vielleicht auch Rosenthal. Und das ihr, die gerade mal vier knallblaue Steingutteller und zwei Kaffeebecher, blau und weiß geringelt, besaß, und Blechbesteck mit blauen Plastikgriffen für vier Personen. Ob sie das jetzt wegwerfen sollte?
Das Wohnzimmer war etwa vier mal acht Meter groß, und die ganzen fensterlosen acht Meter lang lief eine Regalwand aus sehr dunklem Holz, sehr gerade, sehr eckig, mit einigen Schubladen und drei unregelmäßig verteilten kleinen Schrankfächern – und alles voller Bücher, Zeitschriften, Schächtelchen, Nippes.
An der einen Schmalseite eine schwere Sitzlandschaft, mit cognacfarbenem Leder bezogen und mit Kissen in den grausigsten Mustern bedeckt, an der anderen Seite, die auf den Balkon blickte, eine Essecke aus Mahagoni - Thonetstühle und ein ausziehbarer ovaler Tisch. Sehr edel, eigentlich, wenn man das Blumenarrangement aus weißer und rosa Seide ignorierte. Und die wieder mal entsetzlichen Vorhänge, natürlich. Und Tante Martha hatte leider vor einigen Jahren („Kind, es zieht so von unten!“) Teppichboden über das schöne dunkel gebeizte Ahornparkett legen lassen. Hoffentlich lose und nicht verklebt – dann konnte die cremefarbene Wolle rückstandslos entsorgt werden. Besonders schön war sie ohnehin nicht mehr.
Dr. Jörgens inspizierte weiter murmelnd die Schrankfächer, und Hilde wandte sich der Küche zu.
Gar nicht übel, stellte sie fest. Tante Marthas Geschmack hatte ihr hier schon damals durchaus gefallen – dunkles Holz (wie überall) und cremeweiß gemaserte Arbeitsplatten. Wenn man den herumstehenden Krempel verräumte und mal ordentlich sauber machte… sogar ein kleines Esseckchen gab es neben der Balkontür, und in der Küchenzeile nicht nur einen Geschirrspüler, sondern auch eine Waschmaschine und einen Trockner. Der pure Luxus!
Nie mehr mit der Wäsche in den Keller stiefeln – aber wahrscheinlich gab es hier auch gar keine Waschküche.
Die Küche war also sehr erfreulich, sofern man ihr einen eher puren Look verpasste – aber das galt wohl für die ganze Wohnung.
Tante Marthas Bad hatte Hilde noch nie gesehen – wenn sie zu Besuch gewesen war, hatte man sie ins Gästeklo geschickt. Entsprechend überrascht war sie von der Neuzeitlichkeit – glänzende graue Kacheln und mattierte Mischbatterien, eine separate Regenwalddusche und eine Wanne mit breiten Ablageflächen. Und groß war dieses Badezimmer – hier musste man nicht mit einem Bein in der Kloschüssel und mit dem anderen in der Dusche stehen, wenn man sich die Zähne putzte!
Luxus pur, allerdings auch wieder sehr voll. Kosmetika in allen Regenbodenfarben, bordeauxfarbene Handtücher (aus diesem fiesen Velours, der nicht richtig abtrocknete), Regale und Regälchen, Körbe und Körbchen und ein Behältnis für Reserveklopapier, Spitzengardinen vor dem Fenster, Bilder an der Wand oberhalb der Kacheln…
Allmählich fühlte Hilde sich etwas benommen – bis sie diese Fülle gezähmt hatte, würden ja noch Jahre vergehen… wo sollte sie denn hin mit all diesem Kram? In den Wertstoffhof? Ob der Tafelshop das alles brauchen konnte? Sie würde es eben versuchen müssen. Vielleicht konnte man manches auch verkaufen und damit das Depot ein bisschen aufstocken. Für eine Anzahlung brauchte sie es ja nun nicht mehr, glücklicherweise.
Gut, Küche und Bad waren abgehakt. Jetzt kam dann wohl das Schlimmste – das Schlafzimmer. Einmal hatte sie es gesehen, vor einem Jahr etwa, und den Eindruck einer Höhle behalten – noch voller und düsterer als der Rest. Und das Bett wie ein Podest.
Sie trat ein, regelrecht furchtsam, und sah ihre alptraumhaften Erinnerungen sofort bestätigt. Wieder dunkles Holz ohne Ende – was war das eigentlich? Mahagoni? Ebenholz? Irgendein dunkler Obstbaum? Schön gemasert war es ja, aber so erschlagend düster… An einer Wand von Tür bis Fenster eine glatte Schrankwand. Vom Prinzip nicht schlecht, aber…
Nun ja. Gegenüber das Bett. Breit, dunkel, sorgfältig glatt gestrichen, rechts und links ein Nachtschränkchen in passendem Holz, darauf Nagellack, stapelweise Bücher, Zeitschriften, eine Brille (die Hilde fast die Tränen in die Augen trieb), Medikamente und ein Porzellangefäß in Form eines weißsilbernen Schwans, aus dessen Rücken farbige Wattebäuschchen quollen.
Putzig.
Ach, Tante Martha…
Rund ums Bett eine Bettumrandung im Stil der Fünfziger. Schafwolle offensichtlich. So etwas brauchte Hilde nicht, sie lief nie barfuß und liebte Parkett.
Und schon wieder Spitzengardinen. Wieso nicht glatt? Und dafür ein bisschen farbiger? Die ganze Wohnung wirkte nahezu schwarzweiß, wenn man sich eine Art Sepia-Tönung dazudachte: Mahagoni und weiß oder naturweiß, creme und grau. Bunt war nur die überall herrschende Fülle an Kleinkram. Hilde stand nicht an, dies als Unordnung zu bezeichnen.
Und jetzt noch das immer etwas angestaubte Gästebad – in zartgelb!
Nicht übel. Hier konnte sie ihre paar gelben Handtücher weiterverwenden. Toilette, Duschkabine, Waschbecken, Spiegel. Standard. Dazu Papierkörblein, Seifenkörblein, Handtuchbehälter, eine Zierpuppe, eine venezianische Maske, wie man sie im Veneto in jeder Fußgängerzone nachgeworfen bekam (wahrscheinlich Made in Taiwan) und hinter dem klassischen rahmenlosen Spiegel drei rosa Plastikrosen, die aussahen, als hätte sie jemand auf der Wies´n in München geschossen. Genau, ein Lebkuchenherz an der Tür fehlte eigentlich noch.
Читать дальше