Sie schnappte sich einige Müllsäcke und fuhr wieder hinunter in den Keller, wo sie die restlichen schlechten Bücher eintütete (Wertstoffhof), einen Sack voller unsäglicher Klamotten stopfte und ein Paar ziemlich schöne mittelbraune Glacélederhandschuhe entdeckte. Die Handschuhe trug sie nach oben, den Sack warf sie in den Altkleidercontainer an der Ecke.
Danach fuhr sie zurück in den Keller, aber nun gab es dort außer dem wackligen Blechregal, das der Vormieter schon zurückgelassen hatte, nur noch einen Henkelkorb, in dem eine prall gefüllte Supermarkttüte lag, und ein letztes Regalfach voller mieser Bücher. Die Bücher waren, wie eine flüchtige Durchsicht zeigte, der Lesefabrik nicht zuzumuten. Also ab ins Altpapier!
Und in der Tüte befanden sich drei Handtücher in einem merkwürdigen Beigeton, dünn und zerfranst. Müll, eindeutig. Und der Korb? Etwas mickrig, wohl ein alter Geschenkkorb, aber einwandfrei. Sie brauchte ihn aber nicht, also stellte sie ihn, bevor sie wieder zum Altkleidercontainer wanderte, im Müllhäuschen aufs Fensterbrett. Den würde sich schon einer schnappen, ganz bestimmt.
Mit einem Besen fuhr sie schließlich eher flüchtig durch das kleine Kellerabteil und kehrte das Häuflein Staub unauffällig unter der Trennwand durch ins Abteil von Frau Sturm, die immer so entnervend durchs Treppenhaus kreischte, wenn ihr irgendwas nicht passte. Und der passte nie etwas. Na, wenn sie den Staub entdeckte, konnte sie ja hier unten so lange kreischen, wie sie Lust hatte, die alte Schreckschraube.
Der Keller sah praktisch neuwertig aus. Um den musste sie sich nie wieder Gedanken machen. Hatte Tante Marthas Wohnung eigentlich einen Keller? Bestimmt, die Wohnung hatte doch drei Zimmer. Oder waren es sogar dreieinhalb? Nein, drei. Und eine ziemlich große Abstellkammer. Bestimmt zwei auf zwei Meter. Oder mehr. Da würde sie allen Putzkram, das Gepäck, das Wäschegestell, die Winterstiefel… unterbringen. Mal sehen, was noch. In ordentlichen Regalen. IKEA. Vormerken. So arm war sie jetzt schließlich nicht mehr!
Der Unterricht und sogar die blöde Sitzung des AK Wettbewerbe (in den man sie hineingequatscht hatte, Lust hatte sie darauf nie) waren im Nu verflogen, zog Hilde Bilanz, als sie um halb drei im Lehrerzimmer ihre Tasche umräumte und einige unnütze Kopien entsorgte. Man sollte immer etwas Erfreuliches am Nachmittag vorhaben, um den Vormittag beschwingt zu durchtänzeln…
Nein, lieber doch nicht. Dann hatte man vormittags immer diesen Zeitdruck, ob man auch rechtzeitig fertig wurde. Und täglich etwas Schönes – das nutzte sich auch ab.
Aber heute um drei – in fünfundzwanzig Minuten, genau – durfte sie ihr Erbe besichtigen. Tante Marthas Höhle.
Bestimmt war sie schrecklich, Tante Martha hatte alles Mögliche gesammelt und nie etwas weggeworfen, außerdem einen Hang zu schweren, dunklen Möbeln gehabt. Aber klare, eckige Linien – tatsächlich irgendwas zwischen Bauhaus und Art Déco. Sie musste wieder an die Verfilmungen der Hercule-Poirot-Romane denken. Daraus würde sich schon etwas machen lassen, schließlich hatte sie ja alle Zeit der Welt.
Und jetzt sollte sie nicht länger tagträumen, sondern aufbrechen.
Waldburgplatz 12. Tolle Adresse. Und ein ziemlich imposantes Haus, aus den zwanziger Jahren. Es hatte ihr immer schon gut gefallen, erinnerte sie sich: Dicke Wände, breite, niedrige Sprossenfenster, gemauerte Balkone, alles cremefarben verputzt mit gelegentlichen Schmuckbändern aus Mosaiksteinchen in verschiedenen Brauntönen.
Von außen sehr ansehnlich, fand Hilde. Der Notar ließ noch auf sich warten, also betrachtete sie sich in aller Ruhe die Fassade, danach das Klingelschild (kein Tesafilm, keine Plastikschildchen, alles sehr gepflegt. Wahrscheinlich hoher Eigentümeranteil, überlegte sie fachkundig) und schließlich den streng angelegten Vorgarten - Buchsbaum, Rasen, ein Kirschbäumchen.
Schließlich öffnete sich hinter dem Kirschbäumchen ein Fenster und Küchenschwaden wehten hinaus. Ihnen folgte eine unfreundliche Stimme: „Was machen Sie da?“
„Ich warte auf jemanden“, gab Hilde höflich Auskunft.
„Aber nicht hier, sonst hole ich die Polizei!“, blaffte die Stimme zurück.
„Tun Sie das, ich warte hier“, entgegnete Hilde, nun doch leicht gereizt. Was fiel dem Kerl eigentlich ein – oder war das eine Kerlin? Die Stimme lang irgendwo dazwischen.
„Hier ist Sperrbezirk!“ wurde sie nun informiert. Da konnte sie ja nur noch den Kopf schütteln. War der blind? Sah sie aus, als könnte sie sich so ihr Geld verdienen?
„Ich bin die Nichte von der Frau Willinger“, rief sie in Richtung Küchenfenster, um für etwas mehr Vertrautheit zu sorgen.
„Dann haben Sie hier erst recht nichts mehr zu suchen, die Willinger ist nämlich tot“, war die charmante Antwort.
„Das weiß ich. Ich habe die Wohnung geerbt.“
Ein schrilles Kreischen war die Antwort. Großer Gott! Hysterischer Anfall? Ältlicher Papagei? In diesem Moment hörte sie hinter sich eine Autotür klappen. Jörgens kam den kurzen Weg durch den Vorgarten entlang.
„Geerbt?“, kreischte es aus dem Fenster. „Geerbt? So ein junges Flitscherl? Das war immer ein anständiges Haus!“
„Jetzt hoit hoit dei Bapp´n“, plärrte es aus dem ersten Stock, „oida Depp!“
Ein Lockenwicklerkopf erschien neben der halbgerafften Spitzengardine. „Nix für ungut, Fräulein!“
Während erster Stock und Erdgeschoss sich weiter bepöbelten, schloss Jörgens die Haustür auf und ließ Hilde eintreten. Das Treppenhaus war kühl und halbdunkel und roch nach Bohnerwachs. Im Hintergrund bohnerte auch jemand.
„Grüß Gott, Frau Remmel“, sagte Hilde artig, als sie die Hausmeisterin erkannte.
„Ach, Fräulein Suttner. Mei, so schad, gell? Die arme Tante… Beileid, gell?“
„Danke schön, Frau Remmel. Jetzt werde ich hier wohl wohnen.“
„Ah, gehns weiter, wirklich? Mit dem Herrn Ohlmann werden´s aber keine Freude haben, der mag keine jungen Dinger.“
„Ist das der Herr im Erdgeschoss, der eben aus dem Fenster gekeift hat? Der ist mir früher noch nie aufgefallen.“
Frau Remmel erlaubte sich ein Grinsen. „Der is´. Furchtbar, aber was soll man machen?“
„Ist das ein Mieter oder ein Eigentümer?“, schaltete sich Dr. Jörgens ein.
Das wusste Frau Remmel aber auch nicht, nur dass Herr Ohlmann schon seit Jahren hier wohnte. Jörgens wandte sich Hilde zu und zuckte die Achseln. „Den werden Sie wohl ertragen müssen.“
Hilde zuckte ebenfalls die Achseln. „Ohren auf Durchzug und bei Bedarf eine Beleidigungsklage. Schauen wir uns die Wohnung an?“
Sie winkte Frau Remmel zu, die weiter bohnerte, und stieg die elegant geschwungene Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Hier gab es zwar einen Lift, hatte sie festgestellt, aber in den ersten Stock schaffte sie es wohl gerade noch so. Das konnte sie langfristig einige Kilos kosten. Auch nicht schlecht.
Dr. Jörgens schloss die Wohnung auf, und ihnen schlug aus dem Dämmerlicht muffige Luft entgegen.
„Können wir mal lüften?“, fragte Hilde, während sie sich im Flur umsah.
Dr. Jörgens eilte in ein Zimmer, das Hilde für das Arbeitszimmer hielt (wozu hatte Tante Martha eigentlich ein Arbeitszimmer gebraucht?), und riss ein Fenster auf. Hilde ließ den Blick schweifen. Links das Arbeitszimmer, daneben das Wohnzimmer. Das kannte sie gut – riesig, etwas düster, völlig überfüllt. Hier hatte sie oft mit Tante Martha gesessen. Daneben die Küche – auch mit Zugang zum Balkon - , dann kam das Bad, dann das Schlafzimmer und dann dieses etwas fiese Gästebad, um das Tante Marthas Putzfrau anscheinend gerne einen Bogen gemacht hatte. Der Flur war relativ groß, auf dem schwarzen Steinboden lagen verschiedene Teppiche, die Hilde nicht gefielen; wo immer es ging, standen Kommödchen, Tischchen und Schränkchen. Was da wohl alles drin war? Über der größten Kommode hing ein fetter in Gold gerahmter Spiegel. Den würde sie nicht behalten, das war schon mal klar. Zwischen den Möbeln standen und lagen Stühle, Taschen, Tüten… Hilde seufzte innerlich. Da würde sie noch ordentlich was auszumisten haben!
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