Hinter ihm öffnet sich die Tür. Robert dreht sich alarmiert um und sieht einen hageren, großen Mann im schwarzen Anzug auf sich zukommen.
„Um Himmels Willen, was ist denn mit dir passiert?“, sagt der Schwarzgekleidete freundlich und beugt sich zu Robert hinunter. Er zieht ihm die Hand vom Gesicht weg und sieht, dass Robert stark blutet.
„Magdalene, holen Sie bitte ein Pflaster, wir müssen dem Jungen helfen!“, ruft er über die Schulter zurück. Zu Robert gewandt sagt er mit leiser Stimme: „Komm mit hinein, wir kriegen das schon wieder hin.“ Robert ist immer noch so geschockt, dass er einfach wortlos aufsteht und sich von dem Mann ins Gebäude führen lässt. Seine Gedanken überschlagen sich. Er hat sich unsichtbar gemacht, das hat aber nicht funktioniert, denn die beiden Männer haben ihn angestarrt, als sie an ihm vorbeigegangen sind. Und „pierce“ war auch wirkungslos, das hat er gerade mehr als deutlich zu spüren bekommen. Nur langsam gewöhnen sich seine Augen an das dämmerige Licht der Kerzen im Innern des Gebäudes. Es ist wirklich eine Kirche. In der Mitte steht der Altar, über dem ein schlichtes Holzkreuz hängt, dahinter endet der Raum mit einer schwarzen Wand. Erst als Robert näher kommt, erkennt er, dass die ganze Wand mit schwarzem Stoff bespannt ist. Links und rechts im Raum sind jeweils die drei schmalen Fenster, die Robert schon bei seinem Erkundungsgang außen herum gesehen hat. An den Wänden zwischen den Fenstern hängen Bilder, die Szenen aus der Bibel darstellen. Oben auf der Empore, unter dem runden Fenster, sind Orgelpfeifen zu sehen.
Vollkommen leer stehen die Bankreihen da. Wo sind die beiden dicken Männer, die eben in die Kirche gegangen sind? Robert schaut sich suchend um, aber er entdeckt keine andere Tür im Raum als die, durch die er hineingekommen ist. Er wischt sich über die Augen. Die Wunde auf seiner Stirn blutet stärker. Als er sich wieder umdreht, sieht er gerade noch, wie sich eine Öffnung hinter dem Altar schließt. Diese Tür hinter dem lockeren Stoff hat er zuvor gar nicht wahrgenommen! Eine kleine, dunkelhaarige Frau kommt mit einer flachen Metallschale auf ihn und seinen Begleiter zu.
„Du blutest ja stärker, als ich angenommen habe.“ Sanft zieht sie Roberts Hände von seinem Gesicht weg und betrachtet ihn aufmerksam. „Komm mit nach innen, wir müssen die Wunde reinigen.“ Roberts Stirnfalte vertieft sich. Wieso sagt sie nach innen und nicht nach hinten?
„Meister, so können wir ihn nicht gehen lassen. Das Blut vom Boden wische ich gleich danach weg.“ Ihre Stimme klingt unterwürfig. Robert hat den Eindruck, sie würde sich am liebsten noch vor dem Schwarzgekleideten verbeugen. Mit milder Stimme und einem warmen Lächeln stimmt der Mann zu. „Gut, Magdalene, ich komme mit und werde mich mit dem Jungen noch etwas unterhalten.“
Neugierig folgt Robert der Frau hinter den Altar. Sie drückt auf eine unauffällige Knopfleiste, worauf sich eine mit Stoffbahnen getarnte Tür beiseite schiebt. Robert stellt sich darauf ein, in einen völlig finsteren Raum zu kommen, denn bei seinem Rundgang um das Gebäude war in dieser hinteren Hälfte des Hauses kein Fenster zu sehen. Doch als die Tür den Blick auf den Raum freigibt, wird Robert von hellem Sonnenlicht geblendet. Ganz schön raffiniert angelegt: Dieser Raum hat zwar kein Fenster, aber dafür ist das Dach aus Glas, so dass das Tageslicht ungehindert Einlass findet. Sanft wird Robert von hinten weitergeschoben. Im Vorbeigehen nimmt er flüchtig wahr, dass eine Menge Menschen an Tischen, die in kleinen abgeteilten Kabinen stehen, versammelt sind. Was sie dort genau tun, kann er nicht erkennen.
Schon geht es nach links durch eine Tür und danach weiter über eine Wendeltreppe eine Etage tiefer. Erstaunt registriert Robert den hell erleuchteten Vorraum, von dem mehrere Türen abgehen. Magdalene öffnet die ihnen gegenüberliegende, und sie kommen in einen Raum, der wie eine Arztpraxis eingerichtet ist: weiß und klinisch sauber. Fenster ist keines zu sehen. Robert erinnert sich an die Auskunft seiner Ratten, dass der ganze Hügel unter der Kirche ausgehöhlt sei. Welche Räume mögen sich hier noch verbergen?
Robert ist mit Magdalene allein in diesem Zimmer. Während er sich auf eine weiße Liege setzt, bringt sie schon eine Schüssel mit warmem Wasser und beginnt vorsichtig, sein Gesicht zu säubern. Das macht sie sehr sanft und sichtlich bemüht, ihm keine Schmerzen zuzufügen. Als sie ihm das Blut sorgfältig aus seiner tiefen Stirnfalte wischt, ergreift er seine Chance. Er schaut ihr direkt in die Augen und flüstert leise: „remember“
Ihr voller Mund verzieht sich zu einem Lächeln. „Was hast du gesagt? Tut mir Leid, ich habe dich nicht verstanden.“
Fast hat Robert damit gerechnet, aber trotzdem trifft es ihn gewaltig. Was ist da bloß los, wieso funktionieren seine Kräfte nicht mehr? Magdalenes blaue Augen, die immer noch fragend auf ihn gerichtet sind, bringen ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.
„Nein, nein, schon gut, es ist nichts!“ Sie gibt sich damit zufrieden. Ohne weiter nachzufragen wäscht sie sein Gesicht ab und klebt ihm ein breites Pflaster auf die Stirn. „So, das wär’s!“ Sie fasst Robert leicht bei der Schulter und schiebt ihn in Richtung Tür. „Der Meister wartet schon auf dich.“ Vom Vorraum öffnet Magdalene eine Tür auf der linken Seite und lässt Robert, an sich vorbei, eintreten. Diesmal kommt Robert in ein dunkel und gemütlich wirkendes Büro. Die Wände sind rundum mit dunklem Holz verkleidet, die gegenüberliegende Fläche wird fast gänzlich von einer riesigen Bücherwand eingenommen, und davor dominiert ein großer Schreibtisch. Rechts neben der Tür lädt eine gemütliche Sitzgarnitur zum Lümmeln ein, links neben dem Schreibtisch ist die Wand halb geöffnet, doch lässt sich nicht erkennen, was dahinter ist.
„Mein Name ist Golubkardian.“ Lächelnd kommt der Schwarzgekleidete auf Robert zu, legt einen Arm um seine Schulter und führt ihn zu einem der tief gepolsterten Sessel. „Jetzt sag mir, wie du heißt und wieso du hier an unserer Pforte warst.“ Seine dunklen Augen ruhen forschend auf Robert. Robert spürt, dass von diesen Augen ein starker Zwang ausgeht. Er kann sich kaum aus diesem Blick lösen.
„Mein Name ist Robert, ich ... ich wollte mir nur diese Kirche anschauen.“ Robert versinkt tief in dem riesigen Rückenkissen. „Aber vor der Tür bin ich gestolpert und mit dem Gesicht gegen das Holz gefallen. Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben.“ „Das ist doch selbstverständlich, Robert.“ Der Mann lässt sich auf der Couch gegenüber nieder. „Diese Kirche ist unser Heim. Unsere Mitglieder üben hier eine äußerst interessante Tätigkeit aus. Nachdem du nun schon einmal hier bist, werde ich dir noch einiges zeigen, was dich interessieren wird.“ Damit geht er zu seinem Schreibtisch und nimmt einen kleinen Gegenstand aus der Schublade. Der dicke Teppichboden verschluckt seine Schritte. Lautlos kommt er zurück und hält seine geschlossene Hand vor Robert hin. „Zuerst gebe ich dir ein kleines Andenken mit, das dich immer an uns erinnern wird.“ Robert stemmt sich erstaunt aus dem bequemen Sessel. Die Faust seines Gegenübers öffnet sich langsam, und im diffusen Licht der indirekten Beleuchtung sieht Robert ein dunkles Etwas in der schlanken Hand liegen.
„Du kannst es ruhig anfassen“, lächelt der Schwarzgekleidete, „es wird dich nicht beißen.“
Robert nimmt den Gegenstand und hält ihn neugierig gegen das Licht, das von der Decke reflektiert wird. Ein blauer Stein, der die Form einer halben Kugel hat. Die glatte Fläche hat einen Durchmesser von ungefähr fünf Zentimetern. Irgendetwas ist da eingeritzt, aber Robert kann es nicht richtig erkennen. „Herr Golub...“ Robert stockt. Der Name war zu kompliziert, um ihn sich beim ersten Hören zu merken.
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