Wer gerne reist, der mache sich auf ins Sprachland. Dort sind die Menschen nicht an der schnöden Wirklichkeit regelgerechten Redens und korrekten Schreibens interessiert, sondern am Gegenteil: am Falschen, auch am Lächerlichen, am Hoch- und Tieftrabenden, am Irritiertsein, dem kurzen Stutzen und an der Poesie sowie dem Nachdenken, das sich daraus ergibt. Hier wird die Zeit in Verwöhnminuten gemessen, die Menschen arbeiten in Schlafanfallbüros , tragen Ganskörpertattoos , und das Wort Reißverschluss schreiben sie Rajs-ferszlus . Es haben Arten überlebt wie der Eichelhecht , der Rächerlachs und der Aschenpudel , es wachsen s chwarzäugige Erbsen und die seltenen Tiftrienen . Es gibt gerade und gebogene Zahlen, und man isst gebratene Caprihosen sowie Gerichte mit schönen Namen wie Kleine Kopffüßer ertranken .
Aus Axel Hackes Reise in dieses nahe und doch ferne Land ist ein lustiges, verträumtes, versponnenes Sprachspielbuch entstanden. Große Kunst. Und ein noch größeres Vergnügen.
Axel Hacke lebt als Schriftsteller und Kolumnist des Süddeutsche Zeitung Magazins in München. Er gehört zu den bekanntesten Autoren Deutschlands, seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien Wozu wir da sind. Walter Wemuts Handreichungen wir ein gelungenes Leben (Kunstmann 2019). Mehr unter www.axelhacke.de
AXEL HACKE
und andere Geschichten aus Sprachland
VERLAG ANTJE KUNSTMANN
WILLKEMMON
REISEN 1
REISEN 2
REISEN 3
ZEIT
ZAHLEN
ESSEN
FAUNA
FLORA
MASCHINEN 1
MASCHINEN 2
MASCHINEN 3
SCHILDER 1
FORTSCHRITT
GEFÜHL
SEX
BUCHSTABEN 1
KOMMA
BUCHSTABEN 2
SCHILDER 2
BUCHSTABEN 3
GESCHICHTEN
EINIGE HÜHNER
VERWIRRUNG
KANNIBALISMUS
BÖSE
EHRLICHKEIT
PROMINENZ
GERICHTSWESEN
HANDEL UND WANDEL
FÜSSE
HÄNDE
KRIEG
ARCHITEKTUR
ANALES
FREMDWÖRTER
SCHILDER 3
TOD
NICHTS
Hans Traxler, der große Maler und Zeichner, berichtete mir einmal beim Abendessen, wie er im Mai 1945 als 16-Jähriger bei seiner Flucht nach Westen (er hatte als Kind in der Region um Karlsbad gelebt, also Karlovy Vary) die Demarkationslinie bei Marienbad in Westböhmen erreichte. Der amerikanische Wachtposten habe ihn nach seinem Woher und Wohin gefragt und dann eine Frage gestellt, die ihm, dem Wachmann, sehr wichtig schien.
Traxler verstand die Frage so: Are there gods over there? Wobei der Amerikaner das gods irgendwie texanisch gedehnt aussprach, gaads .
Traxler erstarrte.
Was meinte er damit: ob da drüben Götter seien? War das ein Codewort für hohe Nazis oder Generäle?
Jetzt bloß nichts falsch machen, dachte er, sonst schickt der mich zurück zu den Russen. Er antwortete, wahrheitsgemäß: No, Sir, just ordinary people .
Und durfte passieren.
Erst viel später, so Traxler, sei ihm klar geworden, dass der Soldat mit dem zerkauten gaads nicht gods gemeint hatte, sondern guards , Wachen, Wachtposten.
Das notierte ich damals natürlich, denn es ist ganz wunderbar, dass jemand die Frage, ob sich in der Stadt hinter ihm Götter aufhielten, so ganz selbstverständlich und ernst hinnimmt und auch wahrheitsgemäß beantwortet. Er hätte ja auch nachfragen können: What do you mean by gods? Aber wer traut sich noch nachzufragen, auf der Flucht, in großer Gefahr, vor einem Soldaten stehend, der über das Schicksal entscheiden konnte. Der war ja selbst eine Art Gott, und Göttern stellt man besser keine Fragen.
Die Notiz mit Traxlers Geschichte legte ich in eine Riesenschachtel in meinem Büro. In dieser Riesenschachtel lag das Material, aus dem jetzt dieses Buch geworden ist. Praktisch jeden zweiten Tag hatte ich etwas dafür in der Post, zehn Jahre lang, nein, fünfzehn: Sprachfunde von Leserinnen und Lesern irgendwo auf der Welt, Inserate, Schilder, Werbungen, Speisekarten, Zeitungstexte, alle mit kleinen, überraschenden Fehlern, Macken, Irrtümern, über die sich die Leute natürlich manchmal schon ihre Gedanken gemacht hatten. Lustige, verspielte, versponnene, nachdenkliche Mails, Briefe, Postkarten waren das. Manchmal bekam ich auch irgendwo etwas erzählt, wie jetzt von Traxler, oder jemand überreichte mir direkt ein Fundstück, garniert mit einer Anekdote, die ich dann in Stichpunkten auf einen Bierdeckel oder eine alte Quittung kritzelte. Oder auf einen Zettel.
Das wird Ihnen sicher gefallen, sagten oder schrieben die Leute, daraus können Sie vielleicht etwas machen. Aber ich ließ dieses Material lange, lange Zeit einfach liegen.
Ich habe doch schon das eine oder andere Buch zu einem ähnlichen Thema geschrieben, dachte ich. Außerdem hatte ich immer was anderes vor, ein anderes Buch, meine ich. Das schrieb ich dann eben – und dieses hier nicht.
Aber natürlich amüsierte ich mich mit dem, was ich da bekam.
Leserin K. schickte mir zum Beispiel das Foto eines Schildes aus einem Kieler Fußballstadion, auf dem es hieß, der Durchgang zum Stadioninnenbereichsei derzeit nicht möglich.
Sie fand es bemerkenswert, dass es offenbar neben dem sächlichen Stadion auch eine Stadionin gebe, mit dem Plural Stadioninnen , was für mich zunächst die Frage aufwarf, warum man hier nicht einfach, wie es heute manchmal gebräuchlich ist, StadionInnen geschrieben hatte oder Stadion*innen – bis mir klar wurde, dass eben ausdrücklich nur zur Stadionin kein Durchgang möglich war. Zum Stadion aber wohl.
Ich behielt solche Erwägungen für mich, dachte nicht weiter darüber nach, wie ich auch die Frage nicht weiter erörterte, die mir Leserin G. aus Regensburg eines Tages stellte. Frau G. hatte einen Biskuitteig zubereiten wollen und dabei auf einer Internetseite im Rezept unter den Zutaten auch Eier vom Tortenhuhn entdeckt.
Was wohl ein Tortenhuhn sein könne, fragte Frau G. Ich wusste es nicht, aber natürlich stellte ich mir Spezialhühner vor, deren Eier besonders für Biskuitteig geeignet wären. Oder auch ein tortenartig geformtes Huhn, das zusammen mit Kuchenhähnen, Kekshennen und Croissantküken in Spezialzuchtfarmen lebt. Ich schrieb sogar an den Support-Service der entsprechenden Internetseite, um zu fragen, was das sei, ein Tortenhuhn .
Man wisse es nicht, lautete die Antwort.
Wenn man nun aber nur allein diese drei, eher zufälligen Beispiele aus Tausenden von Leserbriefen zusammenlegt – da entsteht eine ganz eigene Welt, nicht wahr? Jedenfalls lässt sie sich erst einmal in Ansätzen ahnen: eine Welt, in der Götter in Städten leben, in der es Stadioninnen gibt und Tortenhühner, eine Welt von eigenem Reiz und seltsamer Schönheit, geformt allein durch Sprache, Missverständnisse, unaufklärbare Irrtümer. Und das Verrückte war, dass sich diese Welt hier in meinem Büro befand (und noch befindet), dass ich alles nur zusammensetzen musste aus den Mails, Briefen, Postkarten, Notizen, Bierdeckeln, Schnipseln, Fotos – ein unentdecktes Sprachland sozusagen, das immer größer geworden war, an das ich plötzlich jeden Tag dachte und in das ich nun aufbrechen wollte.
Sprachland – in meiner Vorstellung war das fortan ein weltumspannendes Gemeinwesen, überall und nirgends befindlich, hier in meinem Büro, aber auch in einer Pizzeria in Mailand, auf einem Schild in Neumarkt/Oberpfalz, in einer Mail aus Hamburg, auf einer Postkarte aus Radevormwald oder einer Speisekarte in Phuket: das einzige Land der Welt, das ausschließlich aus Sprache besteht, aus Irrtümern, Falschgehörtem, schlecht Übersetztem, aus Fehlleistungen und aus den Phantasien, die sich daraus ergeben.
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