1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 „Was war d...?“
Werner bleibt das Wort im Halse stecken, denn Hassan ist abrupt aufgesprungen und wirft den Telefonhörer weg. Sein Stuhl kippt nach hinten und fällt mit Gepolter zu Boden.
Robert beugt sich vor und sieht gerade noch, wie Hassan zum geschlossenen Fenster läuft und ohne zu zögern mit voller Wucht gegen die Scheibe springt. Mit lautem Klirren splittert das Glas, als der schwere Körper dagegen prallt. In einem Regen von Scherben verschwindet Hassan nach unten. Das alles hat sich innerhalb von Sekunden abgespielt, bevor irgendjemand eingreifen konnte. Einige blutverschmierte Glassplitter sind auch nach innen gefallen.
Voller Entsetzen sprinten die beiden Beamten zum Fenster und starren hinunter, während der Hauptkommissar reaktionsschnell von seinem Platz aus zum Telefon greift und die Rettung alarmiert. Dann ruft er die zwei vom Fenster weg.
„Holen Sie mir sofort diesen Cemal Gulay! Sagen Sie ihm aber noch nicht, dass sein Bruder eben aus dem zweiten Stock gesprungen ist. Bringen Sie ihn in den Nebenraum.“
Besorgt wendet er sich Robert zu. „Verdammt, das hätte ich dir gern erspart, das ist keine Kost für einen Vierzehnjährigen. Wie fühlst du dich? Bist du einigermaßen okay?“
Robert gibt sich gewollt lässig: „Keine Sorge, Herr Werner, ich bin doch kein Baby mehr“, wehrt er schnell ab. „Ich frag mich nur, was da gerade abging.“
„Hmm….schaut stark nach mentaler Beeinflussung aus“, erwidert der Hauptkommissar und schaut ihn nachdenklich an. „Es könnte so etwas wie ein posthypnotischer Befehl gewesen sein. Wir haben nur das Wort „Adebar“ gehört, und sofort ist der Mann wortlos, wie eine aufgezogene Puppe, aufgestanden und aus dem Fenster gesprungen!“
Werner legt Robert beruhigend eine Hand auf die Schulter und begleitet ihn zur Tür.
„Tut mir Leid, ich wollte dich selbst nach Hause fahren, aber jetzt kann ich unmöglich hier weg. Einer meiner Leute bringt dich zum Lerchenberg hoch. Ich rufe dich an, sobald wir mehr Klarheit haben.“
Erst als Robert nach Hause in die Wohnung kommt, holt ihn das, was er soeben erlebt hat, mit voller Wucht ein. Dass ein Mensch eben noch ganz normal mit anderen zusammen am Tisch gesessen hat, und plötzlich steht er auf und springt ohne erkennbaren Grund aus dem Fenster – das lässt sich nicht so einfach abschütteln! Gespenstisch war die Lautlosigkeit, in der sich das alles abgespielt hat. Der Mann lief einfach zum Fenster und sprang hinaus, so mir nichts, dir nichts, als wäre es das Normalste auf der Welt. Wie in Zeitlupe sieht Robert noch einmal vor sich, wie der Körper voll gegen das Glas prallte und einige Glassplitter sich in die Haut bohrten, bevor er nach unten verschwand. Es war einfach grotesk und unheimlich.
Robert merkt, dass er unbedingt etwas tun muss. Jetzt allein in der leeren Wohnung hocken und grübeln, das wäre Gift! Ohnehin muss er ja noch mal zur Schule und im Büro des Direktors nachschauen, ob da irgendetwas Auffälliges zu finden ist.
Bevor er sich auf den Weg macht, schaut er noch schnell in die Küche. Das kalte Huhn, das seine Mutter ihm bereitgestellt hat, reizt ihn nicht sonderlich. Dafür hat er plötzlich unbändige Lust auf den Schokoladenpudding, der ihm aus dem Kühlschrank entgegenlacht. Während Robert sich hungrig darüber hermacht, spürt er, wie seine Lebensgeister wiederkehren.
Gestärkt und ruhiger startet er in Richtung Schule. Kurz vor dem Schulgebäude macht er sich unauffällig mit „invisible“ unsichtbar. An der Eingangstür zögert er kurz. Eine Tür, die sich öffnet, ohne dass ein Mensch zu sehen ist, das würde bestimmt auffallen, sollte zufällig jemand im Flur sein. Also zieht er es vor, mit „pierce“ einfach hindurchzugehen.
Flur und Treppenhaus sind leer. An den Geräuschen, die durch die Tür dringen, hört Robert, dass Frau Niemann noch im Büro ist. Er wundert sich, dass die Schulleitung nach diesen Überfällen immer noch so sorglos ist und die Sekretärin ganz allein im Büro arbeiten lässt. Wenigstens der Hausmeister könnte doch irgendwo zu sehen sein! Wieder verwendet Robert „pierce“ und steht gleich darauf vor dem Schreibtisch der Sekretärin. Sie blickt nicht einmal auf. Jetzt, da sie sich unbeobachtet fühlt, sitzt sie bequem, nur in Strümpfen, hinter ihrem Schreibtisch, arbeitet in irgendwelchen Akten und schiebt sich ab und zu eine Praline in den Mund. Ihre Schuhe stehen neben dem Papierkorb.
Robert juckt es in den Fingern, ihr einen kleinen Streich zu spielen. Er beugt sich leise vor und legt die braunen, hochhackigen Damenschuhe in den Papierkorb. Frau Niemann hebt nicht einmal den Kopf. Was wird sie später denken, wenn sie ihre Schuhe wieder anziehen will? Schade, denkt Robert, dass Tim und Chris nur das eine Zauberwort „stone“ vom Amulett bekommen haben! Zu dritt hätten sie bestimmt auch riesig Spaß mit „invisible“ und „pierce“!
Doch dann ermahnt er sich an sein Vorhaben. Es geht hier schließlich nicht um dumme Jungenstreiche! Er schiebt sich schnell an der Wand entlang zur Tür ins Nebenzimmer und gleitet lautlos mit „pierce“ ins Büro des Direktors. Dort setzt er sich erst mal auf die Couch und lässt seine Blicke durch den Raum schweifen. Wo könnte noch etwas versteckt sein, was nicht andere schon gefunden haben? An der Wand hinter dem großen Schreibtisch hängt eine Tafel mit sämtlichen Stundenplänen. Dann steht da noch ein Schrank mit halb geöffneten Türen. Er ist fast leer – wenn einer was verstecken wollte, wäre das mit Sicherheit nicht der richtige Platz. Das große, vollgestopfte Bücherregal erscheint Robert schon interessanter. Ja, das könnte eventuell als Versteck dienen. In der Masse der Bücher, die sich da stapeln, lässt sich leicht einiges verbergen! Robert will eben zur Bücherwand gehen, als draußen bei Frau Niemann das Telefon läutet. Vorsichtshalber läuft er zur Tür und steckt mit „pierce“ seinen Kopf hindurch. Er sieht, wie die Sekretärin den Hörer abhebt, dann urplötzlich erstarrt und wieder auflegt. Sie steht auf und beugt sich zu dem Papierkorb hinunter.
Robert gleitet jetzt ganz durch die Tür und schleicht neugierig näher. Jetzt kann er sehen, wie die Sekretärin gleichmütig ihre Schuhe aus dem Papierkorb nimmt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Sie fragt sich nicht, wieso ihre Schuhe plötzlich im Papierkorb stehen. Danach kramt sie ein kleines Paket unter dem Altpapier hervor und steckt es in ihre Handtasche. Ihre Bewegungen rufen bei Robert sofort wieder das Bild von Hassan Cemal in Gedächtnis: die gleichen stereotypen Abläufe! Allerdings springt sie nicht aus dem Fenster, sondern schlüpft in ihre Schuhe, geht mit ihrer Handtasche aus dem Büro und schließt hinter sich zu.
Einen Moment wartet Robert noch ab, dann gleitet er mit „pierce“ durch die verschlossene Tür und sieht gerade noch Frau Niemann die Treppe hinuntergehen. Was plant diese Frau? Bisher hat er sie immer für völlig normal und unauffällig gehalten. Aber dieses roboterhafte Verhalten, das ist alles andere als normal! Sie verlässt das Gebäude und stöckelt direkt zu ihrem kleinen grünen Corsa auf dem Parkplatz. Robert läuft um die Ecke des Schulgebäudes, wo ihn niemand sehen kann, und macht sich mit „invisible“ wieder sichtbar.
„Dulgur, komm schnell!“, ruft er leise. Er muss nicht lange auf die kleine Taube warten. Schon hört er ein kurzes Flattern, und Dulgur sitzt vor ihm. Freundlich gurrend schaut sie zu ihm auf. Vom Parkplatz her ertönt das Geräusch des startenden Motors. Robert muss sich beeilen!
Er geht rasch in die Hocke und streicht über den Kopf der kleinen Taube.
„Dulgur, schnell, kannst du das kleine grüne Auto beobachten, das gerade startet? Sag mir, wohin es fährt! Ich bin sofort im Hochhaus in meinem Zimmer, mein Fenster ist offen!“
Dulgur fragt nicht lange, sondern steigt ohne zu zögern auf und folgt dem kleinen Auto. Beruhigt macht sich Robert auf dem Weg nach Hause. Auf seine Tiere ist Verlass!
Читать дальше