»Ihr seid ja ein wahrer Künstler! Was war das, was Ihr gepfiffen habt? Ich bin wohl in der Musik bewandert, kann mich aber nicht erinnern, dieses Stück jemals vernommen zu haben.« »Das glaube ich Euch. Es stammt von einem bedeutenden deutschen Komponisten. Etwas ganz Modernes. Ich hörte es am Hofe Friedrichs II. von Preußen in einem Konzert. Es hat mich sehr ergriffen.«
»Ihr wart schon am Hof des kriegerischen Preußenkönigs?« fragte Don Esteban verwundert. »Nach Euren Worten von heute nachmittag hielt ich Euch für einen eingefleischten Anarchisten. Wie verträgt sich das miteinander?« Michel lachte.
»Ich bin kein Anarchist; denn ich lehne Recht und Gesetz nicht ab. Nur die willkürlichen Handhabungen dieser beiden obersten Grundsätze des menschlichen Staates kann ich nicht anerkennen. Entweder gilt das gleiche Recht für jedermann, oder es ist kein Recht. Mit dem Preußenkönig hat es seine eigene Bewandtnis. Er gibt sich wenigstens Mühe, in seinem Lande einen Rechtsstaat aufzubauen, was ihm zwar auch nicht gelingen wird; denn ein einzelner ist niemals dazu imstande. Aber der gute Wille ist da. Und das ist schon sehr viel. Sympathisch ist mir Friedrich II. dadurch geworden, daß sein erstes Amtsgeschäft nach seinem Regierungsantritt die Abschaffung der Prügelstrafe war. Das ist viel für Europa. Nun, trotz allem gibt es vorläufig auf der Welt nur zwei Länder, in denen der Anfang der menschlichen Freiheiten geschaffen wurde. Das sind die Schweiz und die neugegründeten Vereinigten Staaten von Nordamerika.« Der Graf fragte:
»So erkennt Ihr auch den Adel der Geburt nicht an?«
»Niemals. Was ist schon Geburt? Wieso maßt sich der eine Vorrechte vor dem anderen an?« »Ihr scheint ein rechter Hitzkopf zu sein. Dennoch muß ich sagen, daß es mir Freude macht, mit Euch zu sprechen. Es bringt Abwechslung in die Eintönigkeit des Gefangenendaseins.« Michel mußte lachen.
»Fürwahr, sonderbare Gespräche für zwei Menschen, die jeden Moment das Schicksal des armen Schäfers teilen können.«
»Ach so, ja, der Schäfer, was ist mit ihm? Hat er sich erholt von den fürchterlichen Schlägen?« »Wenn ihm nicht schnellste Hilfe zuteil wird, wird er nicht mehr lange am Leben bleiben. Er muß furchtbare Qualen leiden.«
»Diese Teufelin«, zischte der Graf. »Gott wird sie strafen.«»Gott?« fragte Michel. »Glaubt Ihr an Gott?« Hierauf wußte Don Esteban nichts zu erwidern. Eine solche Frage war ihm noch nie im Leben gestellt worden.
Der Morgen nahte bereits, als der Graf sich zurückzog. Michel hatte ihm versprochen, ihn in der kommenden Nacht aufzusuchen.
Als der Wächter kam und Brot und Wasser brachte, fand er den Gefangenen schlafend vor. Dabei war es schon heller Tag; und die Sonne stand hoch am Himmel. Graf Esteban de Villaverde y Bielsa hatte den gesunden Schlaf der Jugend schon seit Jahren verloren. Für ihn bedeutete das Tageslicht nutzlos verbrachte Zeit. Jetzt, da er einen Kameraden gefunden hatte, mehr denn je. Die Stunden schlichen dahin. Die Minuten waren wie Wasserperlen in einer Tropfsteinhöhle. Man hörte jede einzelne fallen und konnte den Fall doch nicht beschleunigen.
Nach Einbruch der Dunkelheit, auf die Esteban den ganzen Tag über verzweifelt gewartet hatte, wurde er immer aufgeregter. Auch jetzt verrannen die Minuten noch nicht schnell genug; denn der Erwartete erschien nicht.
Michel war bereits auf dem Wege zum Grafen, als er sich plötzlich auf den dritten Leidensgefährten besann, der eine Zelle weiter wahrscheinlich in gräßlichen Schmerzen den Tod erwartete.
So beschloß er, erst diesen aufzusuchen, um ihm ein
paar tröstende Worte zu sagen, wenn es ihm schon auf andere Weise nicht möglich war, seine Qualen, die er ja letzten Endes durch sein, Michels, Verschulden erduldete, zu lindern. Wie erstaunte Michel, als er den Schäfer nicht auf der Lagerstatt, sondern auf einem Traggestell in Tücher gewickelt wiederfand.
Tot, schoß es ihm blitzartig durch den Kopf. Man hatte die Leiche bereits eingewickelt, um sie abzuholen und zu begraben.
Ein Gedanke durchzuckte Michel. Wie, wenn man sich nicht mehr die Mühe gemacht hatte, die Tür der Zelle zu verschließen, da man ja sicher sein konnte, daß ein Toter nicht entfliehen konnte?
Mit ein, zwei raschen Schritten stand Michel an der Tür und stemmte sich vorsichtig dagegen. Sie gab nach.
Michel dachte sofort an das offene Gangloch in der Zelle. Es mußte unbedingt verschlossen werden, bevor er einen Ausbruchsversuch unternahm. In seiner eigenen Zelle war alles in Ordnung.
Der Stein war schnell in seine alte Lage gebracht. Und nun hinderte ihn nichts mehr, den Versuch zu wagen. Den Grafen würde man schon irgendwie benachrichtigen können. Die Herrschaften auf dem Schloß sollten sich über den Silbador noch wundern, wenn dieser erst seine Waffen oder einen entsprechenden Ersatz wiederhatte.
Dann stand Michel auf dem Gang. Sein Atem ging hastig. Nirgends war ein Laut zu hören. Schritt für Schritt tastete sich der Ausbrecher in der Dunkelheit voran, fest entschlossen, sich auf keinen Fall wieder einsperren zu lassen. Lieber tot als jahrelang in diesem Verlies schmachten.Weiter oben verzweigte sich der Gang. Unentschlossen blieb Michel stehen. Warum hatte er sich nicht vom Grafen die genaue Lage schildern lassen? Wie hätte er andererseits gestern wissen sollen, daß ihm bereits heute die Freiheit winkte!
Da erinnerte er sich an das, was der Graf von einem Gang erzählt hatte, der an der vierten Zelle, durch eine dicke Steinwand von dieser getrennt, hinaus ins Gebirge führte.
Schnell lief er wieder zurück.
Jetzt stand er vor Pedros Verließ. Ein Stück weiter war die vierte Tür. Dann kam eine fünfte. Sie war verschlossen. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte kein Loch finden, in das man einen Schlüssel hätte einführen können. Dicht neben dieser Tür lag ein Stein auf dem Boden. Er hatte dieselbe Größe wie jener, der zum Verschluß des Verbindungsganges gehörte. Michel ließ sich auf die Knie nieder. Er durfte keine Zeit verlieren. Jeden Augenblick konnten die Wächter kommen, um die Leiche zu holen, die sicherlich noch in der Nacht der Erde überantwortet werden sollte.
Der Stein flog zur Seite. Michel steckte den Arm in das Loch. Seine Finger fanden den Einschnitt. Es war alles genau so wie in der Zelle. Nur drehte sich in diesem Fall nicht eine Steinplatte im Boden um ihre eigene Achse, sondern die Tür schwang zurück. Vielleicht kannte diesen Durchlaß außer dem gefangenen Grafen und dessen Vater niemand im Schloß. Als die Tür offen stand, legte Michel den Verschlußstein wieder über das Loch und trat in den finsteren Gang. Vorsichtig, ohne ein Geräusch zu verursachen, drückte er die Türe hinter sich zu. Aufatmend ging er
Schritt für Schritt weiter. Die stickige Luft wurde immer klarer, ein Zeichen, daß er sich dem Ausgang näherte. Dann war sternklarer Himmel über ihm, kühle Nachtluft umfing ihn wie eine köstliche Erquickung, ein verschlafener Vogel flatterte. — Frei!
Nachdem Graf Villaverde y Bielsa bis ungefähr gegen Mitternacht gewartet hatte, hielt er die Einsamkeit nicht länger aus. Er stieg in den Gang hinunter und ging zur Zelle Michels. Vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, bewegte er den Steinquader von seinem Platz. Als alles zum Aufstieg bereit war, fragte er leise in die Dunkelheit: »Hallo, Senor Baum, hört Ihr mich?«
Keine Antwort. Er fragte noch einmal. Seine Stimme wurde lauter. Dann stieg er hinauf. Jeden Millimeter tastete er ab. Von dem Gefangenen war keine Spur zu finden. Kopfschüttelnd zog er sich zurück. Was mochte das bedeuten?
Der Graf hastete in seine eigene Zelle. Dort preßte er das Ohr auf die Klappe in der Tür. So konnte man, wenn auch nur gedämpft, wahrnehmen, was draußen vor sich ging. Da hörte er Schritte den Gang hinunterkommen. Sie hielten vor der Tür links neben ihm, wo der Schäfer Pedro lag.
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