Michel Baum saß an einem blankgescheuerten Ecktisch in der Taverne »Zur goldenen Krone«. Zwei andere Burschen, die im selben Alter sein mochten, leisteten ihm Gesellschaft. Michel war der Sohn des Tabakhändlers Andreas Baum, eines rechtschaffenen Mannes, der weder Kosten noch Mühe gescheut hatte, seinen Sohn an der großen Universität zu Rostock Medizin studieren zu lassen. Nach dem Doktorexamen und einem Jahr praktischer Arbeit an einem Spital in Berlin war Michel nun heimgekehrt.
Gegenüber, an einem anderen Holztisch, saßen Musketiere des Landgrafen von Hessen-Kassel und stierten mit stumpfen Mienen in ihre Humpen. Das Bier darin schien heute nicht recht schäumen zu wollen. Alles war stiller als sonst, trostloser.
»Möchte wissen, was die Buntröcke auszustehen haben«, sagte Michel Baum. »Sie stehlen dem lieben Gott den Tag, bekommen pünktlich ihren Sold, können abends in den Wirtshäusern herumsitzen, na, und Krieg ist im Augenblick auch nicht.« Einer seiner Freunde verzog das Gesicht.
»Man merkt, daß du aus Berlin kommst. Hat es sich noch nicht herumgesprochen, was mit diesen armen Tröpfen gespielt wird?« Michel sah ihn erstaunt an.
»Keine Ahnung.«Der andere beugte sich über den Tisch und flüsterte ihm die Neuigkeit ins Ohr: »Friedrich hat sich nicht gescheut, 12 000 Musketiere und Offiziere als geschlossene Kompanien an die Engländer zu verkaufen, damit sie den Rotröcken drüben in den amerikanischen Kolonien die Kastanien aus dem Feuer holen. Ich glaube, da haben die armen Kerls allen Grund, die Köpfe hängen zu lassen.«
Michel sah sein Gegenüber ungläubig an. »Menschen will der Landgraf verkaufen?«
»Nicht Menschen«, sagte der dritte, der am Tisch saß, »Landsknechte, Soldaten, Kriegsmaschinen.«
Michel sprang erregt auf.
»Und das duldet ihr?«
Seine beiden Freunde sahen sich ängstlich um. Sie zogen ihn wieder zu sich auf die Bank und raunten ihm zu:
»Um Gottes willen, ereifere dich nicht. Du selbst kannst schneller dabeisein, als du denkst. Ein Wort zuviel, und schon wirst du arretiert. Aus dem Arrest gibt es dann nur einen Ausweg, nämlich den bunten Rock.«
Michel hob seinen Humpen und trank den Rest Bier aus. Dann nahm er seinen Hut, grüßte und verließ gedankenschwer das Lokal.
Auf der Straße pfiff er vor sich hin. Dies Pfeifen war bemerkenswert; denn er hatte es darin zu einer erstaunlichen Meisterschaft gebracht. Die Melodien, die er wählte, waren nicht etwa Walzer oder Tänze, wie sie jeder einigermaßen musikalische Mensch pfeifen konnte; nein, es waren kunstvolle Triller und wahrhaft schauerlich klingende Passagen. Oft klangen die einzelne Pfiffe fast wie Akkorde, und zwar nicht wie einfache Dreiklänge, sondern wie Sept- und Nonen-akkorde. Unheimlich konnte es einem dabei werden.
»Halt' er seinen Mund still«, raunzte ihn plötzlich eine unfreundliche Stimme aus der Dunkelheit an.
Ein säbelrasselnder Polizeiwachtmeister, dessen Oberlippe von einem martialischen Schnurrbart bedeckt war, trat auf ihn zu.
Michel Baum blieb stehen und sah den Vertreter der Staatsgewalt lächelnd an.
»Ich wußte nicht, daß man sich in Kassel nicht mehr auf seine eigene Art und Weise amüsieren darf«, sagte er ruhig.
»Amüsier' er sich, wo er will, aber nicht auf der Straße.«
»Er hat recht«, erwiderte Michel und schnippte mit den Fingern. »Wo der Landgraf Soldaten nach England verkauft, da muß der Mensch seinen Humor verlieren, selbst wenn er ein Wachtmeister ist, oder — vielleicht gerade darum.«
Dem Polizisten verschlug diese Frechheit im ersten Augenblick die Sprache. So hatte noch niemand mit ihm zu sprechen gewagt. Und dieser Bursche redete ihn gar einfach mit »Er« an. Michel Baum war bereits weitergegangen. Der schnauzbärtige Vertreter der Obrigkeit hatte sich von seiner Überraschung erholt und machte nun Anstalten, ihm zu folgen. Da fuhr ihm erneutes, lautes Pfeifen in die Ohren.
»Zum Teufel«, schimpfte er, »das ist ja ein ganz vermaledeiter Kerl! Na, ich werde ihn Mores lehren.« Er stapfte mit raschen Schritten hinter Michel her. Ehe er ihn noch erreicht hatte, rief er: »Halt, stehnbleiben!«Michel ging ruhig weiter.
Der Polizist kam ins Schnaufen. Mit hochrotem Kopf tauchte er plötzlich neben dem Pfeifenden auf und schrie ihn wütend an:
»Bleib er stehen, oder ich werde ihn arretieren! Wenn er nicht augenblicklich gehorcht, mache ich von meinem Säbel Gebrauch!«
Michel blieb stehen. Langsam, ganz langsam drehte er sich zu dem Wachtmeister um. Seine Züge waren ernst.
»Schämt er sich nicht?« fragte er ruhig. Dem ändern wollten die Augen aus dem Kopf treten. »Schä — schä — schämen?« stotterte er, »warum sollte ich mich schämen?«
»Weil er einen ehrsamen Bürger der Stadt Kassel mit der Waffe bedroht.«
»Ha«, rief der Polizeimann aufgebracht. »Kommt er mir so? — Will er der Obrigkeit vielleicht
gar verbieten, von ihrem Recht Gebrauch zu machen?«
Michel lachte ihm ins Gesicht.
»Wie spät ist es, Wachtmeister?«
Er sagte einfach «Wachtmeister« anstatt «Herr Wachtmeister«. »Es hat gerade neun geschlagen. Hat er das nicht gehört?« »Eben drum«, antwortete Michel, »weshalb belästigt er mich da?« »Be--be--lästigt?«
»Natürlich«, sagte Michel streng. »Kann er mir vielleicht einen Paragraphen im Gesetzbuch zeigen, der dem Bürger vor zehn Uhr das Pfeifen auf der Straße verbietet?« Der Polizist wurde sichtlich verlegen. Dann aber raffte er sich auf. Recht oder Unrecht, er hatte dem jungen Mann zu beweisen, daß er die Pflicht hatte und von der Obrigkeit dazu eingesetzt war, einen Untertan des Landgrafen Gehorsam zu lehren. Nur auf den Gehorsam kam es an. Es war sowieso höchst gefährlich, was der junge Mann da dauernd von Bürgern faselte. Bürger gab es nicht in Kassel. Bürger gab es drüben in Frankreich. Bürger nannten sich diejenigen, die mit der Herrschaft der von Gott eingesetzten Obrigkeit nicht mehr zufrieden waren, sondern selber herrschen wollten. Höchst gefährlich war so etwas, da mußte man rechtzeitig eingreifen.
»Unsinn«, knurrte er jetzt unter seinem Schnauzbart hervor. »Er ist ein Untertan des Landgrafen und hat zu gehorchen.« Michel sah ihn lange an.
»Habt Ihr schon einmal etwas von Berlin gehört, guter Mann?« Dem «guten Mann« lief es bei dieser Anrede kalt über den Rücken.
»Das geht ihn nichts an!« schrie er barsch. »Er hat mir jetzt seinen Namen zu sagen. Und dann mag er sich trollen. Morgen wird er vorgeladen.«
»Also er hat noch nichts von Berlin gehört? Nun, es ist schlimm für einen Vertreter der — Obrigkeit, daß er so dumm ist.« »Kerl — ich bringe ihn um!«
Der Polizist machte sich an seinem Säbelknauf zu schaffen. Doch bevor er gezogen hatte, blitzte schon der zierliche Degen Michels im aufkommenden Mondlicht.
»Er muß eine Lektion von Berlin erhalten«, sagte Michel. »Dort gibt es einen König, hört er, einen König, nicht einen Landgrafen. Und dieser König nennt sich selbst den «ersten Diener seines Staates«. Was ist dagegen ein kleiner Landgraf oder dessen Polizist?« Der Wachtmeister zog blank. Den Frozzeleien dieses Bürschchens war er nicht gewachsen. Die Klinge blitzte. Aber Michel war nicht müßig geblieben. Sein Degen zischte dem Wachtmeister dicht an der Nase vorbei. Die schwere Waffe der Obrigkeit wirbelte durch die Luft und schlug klirrend zu Boden. Im gleichen Augenblick berührte Michels Degenspitze die Brust des Polizisten. Der schrie erschrocken auf.
Mittlerweile hatten sich einige Menschen eingefunden, die dem erstaunlichen Schauspiel interessiert und auch wohl etwas ängstlich zusahen. Dergleichen hatte man in Kassel noch nicht erlebt.
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