»Hallo, Ihr da«, rief der Anführer, während er flüchtig die Hand zur Mütze führte, »habt Ihr einen Musketier zu Pferde gesehen?«
Charlotte Eck reagierte gar nicht auf den Anruf. Der Anführer, ein Wachtmeister, wiederholte seine Frage.
»Meint er mich mit seiner unverfrorenen Fragerei?«
Der Wachtmeister wurde rot. Seine Leute grinsten schadenfroh. Dann aber besann er sich wieder auf seine Mission. Schließlich sollte er ja einen Deserteur fangen. Da durfte man nicht wählerisch in den Mitteln sein. Die junge Dame da vor ihm war weit und breit der einzige Mensch, der den entflohenen Musketier gesehen haben konnte. »Im Namen des Landgrafen«, rief er, »antwortet!«
»Er hat eine Art und Weise, mit Damen umzugehen, über die ich mich beim Landgrafen beschweren werde. Laß er mich jetzt in Ruhe.« Unbeirrt ritt sie weiter.
Der pflichtbewußte Wachtmeister folgte ihr hartnäckig. »Nicht bevor Ihr mir Auskunft gegeben habt!«
»Was kümmert mich schon ein entlaufener Musketier! Vorhin kam hier wohl ein Reiter vorbei, der geradewegs die Straße dort weitergeritten ist. Ob er ein Musketier war, vermag ich nicht zu sagen. Ihr seht doch alle gleich aus in den Monturen.« »Dort entlang?« vergewisserte er sich noch einmal.
»Natürlich, dort entlang, er wäre mir gar nicht aufgefallen, wenn er nicht ein Frauenzimmer bei sich gehabt hätte.«
»Ah«, freute sich der Wachtmeister, »eine Dame, sagt Ihr?«
»Dame«, antwortete Charlotte wegwerfend, »nennt er ein Frauenzimmer, das sich zu so früher Stunde bereits mit einem Musketier vor der Stadt herumtreibt, etwa eine Dame?«
Die Reiter grinsten. Ihnen schien das resolute Mädchen zu gefallen. Es machte ihnen ungeheuren Spaß, ihren Wachtmeister so abgekanzelt zu sehen.
Der Wachtmeister aber schien nicht so viel Humor zu besitzen.
»Mäßigt Euch, Madame, die Dame, von der ich sprach, war die Tochter des hochwohllöblichen Kaufund Handelsmannes Eck in Kassel. Sie würde eine Anklage wegen Beleidigung erheben, wenn ich erzählte, daß Ihr sie Frauenzimmer nanntet.« Charlotte kämpfte mühsam gegen ein Lachen.
»Pah«, sagte sie in abfälligem Ton. Dann kümmerte sie sich nicht mehr um den Wachtmeister. Dieser gab seiner Patrouille einen Wink. Die Reiter stoben im Galopp davon. Aufatmend wandte Charlotte ihr Pferd, und als sie sich vergewissert hatte, daß sich niemand mehr um sie kümmerte, ritt sie wieder dem Wald zu.
Es war gegen Mittag desselben Tages, als Andreas Baum aus seinem Tabakladen trat. Kundschaft war um diese Stunde nicht zu erwarten. So setzte er sich auf die Bank vor seiner Tür in die Sonne. Die nie verlöschende Pfeife zwischen den Zähnen, dachte er über die Dinge des Daseins nach. Immer wieder schweifte sein Blick hinüber in die Kasernements, in denen sein : Sohn als Musketier diente. Um Michel, dessen Leben so vielversprechend begonnen hatte, machte er sich von Tag zu Tag mehr Sorgen. Da hatte sich der Junge nun Jahr für Jahr brav durch die Universität geschlagen, hatte endlich seinen Doktor gemacht, um jetzt als unbedeutender Musketier den Soldatenrock zu tragen.
Es wollte Andreas Baum nicht in den Sinn, daß all das schwerverdiente Geld, mit dem er das Studium seines Sohnes in Rostock finanziert hatte, nur dazu ausgegeben worden sein sollte, damit der Herr Landgraf von Hessen-Kassel einen akademisch gebildeten Musketier in seinem Heer hatte. Dazu kam dann noch die Ungewißheit über das spätere Schicksal der Soldaten, die nach Amerika fahren sollten, um gegen jenen rebellischen General Washington zu kämpfen. Was hatte denn eigentlich Kassel mit Washington zu tun? Andreas stopfte seine Pfeife und zündete sie wieder an.
Wie war das überhaupt mit diesem General Washington und seinen Anhängern? Sie wollten sich von der englischen Krone freimachen. Sie wollten keinen König mehr über sich haben, sondern sich selber regieren, ähnlich wohl wie die Schweizer. Wenn sie aber keinen König hatten, dann war auch kein Landgraf da, der seine Soldaten an fremde Mächte verkaufen konnte, um seine Privatkassen aufzufüllen. Hm, eigentlich gar nicht schlecht. Und gegen so einen Washington sollte Michel Baum, Nachkomme eines reichsfreien Bauern, kämpfen? Wäre es nicht viel besser, er kämpfte für ihn? — Nun, das würde er mit Michel in den nächsten Tagen einmal besprechen, wenn der Junge abends auf ein Stündchen frei hatte.
Eine Stimme weckte Andreas aus seinem Brüten.
»Ist er der Tabakhändler Baum?« fragte ein Korporal in barschem Ton.
Andreas Baum sah erstaunt auf.
»Ja, natürlich, der bin ich. Was wollt Ihr?«
»Hat er seinen Sohn gesehen?«
»Mein Sohn ist der Musketier des Landgrafen. Er hat jetzt Dienst. Wie kann er da hier sein?«
Der Korporal sah den Alten lange an.
»So weiß er noch nicht, daß sein Sohn desertiert ist?«
Andreas Baum fuhr auf.
»Desertiert? Seid Ihr wahnsinnig?«
»Ganz und gar nicht. Es ist, wie ich sage. Wir dachten, wir würden ihn hier finden.« Jetzt erst bemerkte Andreas, daß sein ganzes Haus umstellt war. »Sucht«, sagte er kurz und klopfte seine Pfeife aus.
»Jawohl«, sagte der Korporal, »das werden wir. Und wehe ihm, wenn wir ihn hier versteckt finden.«
Andreas Baum würdigte den Mann keines Blickes mehr. Nicht eine Hand machte er krumm, als die Leute das Haus vom Boden bis zum Keller durchkämmten.
Als die ersten Soldaten ihren Auftrag durchgeführt hatten, fragte der Korporal:»Habt ihr was gefunden?«
Die Leute schüttelten die Köpfe. Ein kleiner, rothaariger Bursche, der einen verschmitzten, gerissenen Eindruck machte, hielt dem Korporal ein kleines, graues Büchlein hin und meinte: »Vielleicht ist das von Nutzen, Herr Korporal.« Der Angesprochene nahm es in die Hand und blätterte es flüchtig durch.
»Was soll ich mit der Schwarte? Es ist Englisch. Ich kann es nicht lesen.«
Er wollte es dem alten Baum aushändigen. Da legte sich derjenige, der es gefunden hatte, ins Zeug.
»Behaltet es, Herr Korporal. Haben wir schon den Deserteur nicht gefunden, so könnt Ihr Euch mit diesem Buch einen Namen machen und wohl gar ein Sternchen dazuverdienen.« »Er redet dummes Zeug!« knurrte ihn der Vorgesetzte an, der sich in seinen geheimsten Wünschen von einem seiner Untergebenen ertappt sah. Er fragte dann aber doch: »Was ist das für ein Buch?«
»Die Verfassung der Rebellen in Amerika, mit denen der englische König in Fehde liegt, ein Büchlein, das wohl Unheil anrichten kann in den Köpfen von ehrsamen Bürgern, die ihrem König oder ihrem Fürsten den Zehnten nicht mehr geben wollen.«
Der Korporal drehte und wandte das Pamphlet in seiner Hand und steckte es dann in seine Tasche. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, was dieses Büchlein mit der Flucht des Musketiers zu tun haben sollte, wollte sich aber vor den Soldaten keine Blöße geben. Er ließ seine Leute antreten und kommandierte: »Rechts um! Marsch!«
Andreas Baum sah auf die Uhr. Es war, jetzt drei Uhr nachmittags, die Stunde, wo die Bank gegenüber ihre Schalter wieder öffnete. Andreas Baum war ein Mann von schnellen Entschlüssen. Für ihn stand es fest, daß Michel irgendwann noch einmal auftauchen würde, um Abschied zu nehmen. Es konnte nicht schaden, wenn man ein paar hundert Gulden im Haus hatte. Andreas dachte keine Minute daran, seinem Sohn Vorwürfe zu machen. Ein Baum eignete sich nicht zum Soldatspielen. Und was hieß hier schon Deserteur? Bei solcher Rechtsprechung seines Landgrafen, die jedem Recht Hohn sprach!
Als der Abend hereinbrach, lag ein fertig geschnürtes, wohlgepacktes Bündel im Schlafzimmer des Alten. Er selber saß auf seinem Bett und wartete. Ein bißchen wehmütig war ihm wohl ums Herz. Aber er hatte das feste Vertrauen, daß Michel sich überall durchbeißen werde. Als die Sonne untergegangen war, klopfte draußen jemand leise an die Tür. Andreas stieg die Treppen hinunter und öffnete. Er war sichtlich enttäuscht. Der Ankömmling war Charlotte Eck. »Seid Ihr allein, Vater Baum?« fragte sie schnell.
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