Die Galeone mit der schwarzen Samtflagge am Hauptmast zerteilte mit ihrem Bug die Wellen des Atlantischen Ozeans. Die weißen Segel waren gebläht wie der dicke Bauch eines nimmersatten Vielfraßes.
In der Kapitänskajüte schlummerte Marina dem Morgen entgegen. Schlummer war eigentlich zuviel gesagt für die unruhigen Stunden, die von wilden Träumen durchzogen verrannen. Marina hatte den gesunden, tiefen Schlaf verloren. Noch stand die Qual nicht auf ihrem Gesicht geschrieben. Noch schien das Antlitz engelsrein. Aber wie lange würde es noch so bleiben? Irgend etwas bohrte in ihr. Es war die verzehrende Sehnsucht nach dem, den sie zugleich haßte und liebte, der sie jedoch verschmähte. Ihre Leidenschaft wuchs dadurch noch mehr. Und warum verschmähte er sie? Weil er von Natur aus ein guter Mensch war, ein Mensch, der das Leben anderer Menschen achtete, ein Mensch, der ein Gewissen hatte und deswegen alles aufgegeben hatte, Heimat, Vater und Braut,
Und sie? Weshalb schwamm sie durch die Meere und konnte trotz der Unendlichkeit des Wassers keine Ruhe finden? Weil sie eine Gejagte war, die Gejagte ihres eigenen Gewissens; denn die Gerichte würden ihre Suche nicht lange fortsetzen. In Spanien geschah so viel, daß auch eine Sensation, wie es die Gräfin Marina war, bald in Vergessenheit geriet. Nein, nicht das Urteil der Richter fürchtete sie, sondern die Stimme des Richters in sich selbst, die von Tag zu Tag quälender wurde.Sie hatte gemordet, ohne sich darüber Rechenschaft abgelegt zu haben. Sie hatte gemordet, weil ihr Menschen im Wege waren, damals der Majordomo, dann Doktor Garcia.
Freilich, auch sie waren Schurken gewesen. Und wie war das mit dem Schäfer Pedro Jorge, den sie im Blutrausch halb tot hatte schlagen lassen? Pedro war kein Schurke. Doch selbst wenn er einer gewesen wäre, war es ihr Recht gewesen, jemanden aus Freude zu peitschen, bis er sich nicht wieder erheben konnte? Hätte der Silbador jemals einen Schurken erschlagen? Hatte er nicht ihren Liebhaber schonen wollen, als dieser ihn mit dem Degen angriff? Nein, der Silbador tötete nur, wenn das eigene Leben davon abhing und es sonst keinen anderen Ausweg gab.
Tausendmal hatte sich Marina gefragt: warum bin ich nicht wie er, der Pfeifer? Ja, warum? Niemand konnte ihr darauf eine Antwort geben.
Als die »Trueno« nach der Meuterei bei der Barbuda-Insel das dritte Schiff unter ihrem Kommando angegriffen hatte, gab sie selbst den Befehl, die Mannschaft nicht zu töten und auf die persönliche Beute zu verzichten. Sie hatte das Wunder vollbracht, daß sich die Piraten an diese Anweisung hielten, obwohl sie ja letztlich und endlich deshalb gemeutert hatten, weil ihr alter Kapitän, Senor Porquez, genau den gleichen Befehl erteilt hatte, nachdem man die »Quebec« geentert hatte.
Von dieser Zeit an blieb es so. Auch das nächste Schiff wurde nur ausgeraubt, geradeso wie der Kauffahrteifahrer, den man vor ein paar Tagen besiegt hatte.
Warum hatte sie das getan? Weshalb setzte sie sich überhaupt der Gefahr aus, von ihren Leuten womöglich nicht mehr ernst genommen zu werden? Sie hatte nur eine Erklärung dafür: der Silbador hätte es ebenso gemacht.
Es fiel ihr schwer, diese Tatsache vor sich selbst zuzugeben. Sie wehrte sich verzweifelt gegen den Gedanken, daß jener Mann einen derartigen Einfluß auf sie ausübte, obwohl er längst — und wahrscheinlich für alle Zeiten — aus ihrem Gesichtskreis gerückt war.
Marina fuhr sich mit den schlanken Händen durch das wirre Haar. Dann rückte sie die Wange auf eine kühle Stelle des Kopfkissens, und ihre brennenden Augen starrten auf die dunkle Täfelung der Wand.
Sie wälzte sich noch eine Weile unruhig hin und her. Dann warf sie die Decke zurück und stand auf. Das kalte Wasser tat ihrem Gesicht wohl. Immer wieder goß sie sich einen Kübel nach dem anderen über den schlafheißen Körper. Draußen schimmerte das erste Licht des grauenden Tages.
Da hörte sie auf einmal hastige Schritte den Gang vor der Kabine entlangeilen. Vor ihrer Tür verhielten sie. Dann klopfte jemand, zuerst behutsam, dann immer energischer.
»Ja?« fragte sie verwundert. »Ihr könnt hereinkommen.«
Guillermo stand mit fliegenden Pulsen und glühenden Augen vor ihr.
»Was willst du so früh?«
»Oh, Senorita, jetzt ist die Stunde der Rache gekommen! Ich wollte noch nichts unternehmen. Ich habe noch keinen Befehl gegeben, die Kanonen klarzumachen. Ich mußte Euch als erster diese Kunde überbringen.«
Marina sah ihn verwundert an.»Sprich doch schon! Spann mich nicht auf die Folter!« »Ein Schiff nähert sich, oder besser, wir nähern uns dem Schiff; denn es kommt nur langsam voran. Seine Takelung ist behelfsmäßig. Es wird uns ein Leichtes sein, es zu überfallen.« Marina nahm sich zusammen. Sie ahnte mehr im Unterbewußtsein als mit wachen Sinnen, was Guillermo jetzt erzählen würde. Sie hielt sich zurück und fragte mit erkünstelter Gleichgültigkeit:
»Pah — wie kann dich ein kampfunfähiges Schiff, das halb abgetakelt ist, in einen solchen Freudentaumel versetzen?«
Guillermo platzte heraus:
»Es ist - es ist - die »Quebec«!«
Da war es ausgesprochen, was Marina gehofft und zugleich gefürchtet hatte. Nur mit Anstrengung gelang es ihr, eine zufriedene Miene aufzusetzen. Hier, diesmal stand fest, daß die Mannschaft ihr Recht auf Rache fordern würde. Wenn Guillermo seiner Leidenschaft die Zügel schießen ließ, dann würden auch die anderen kein Halten mehr kennen. Verzweifelt fragte sich die Gräfin, wie dieses Schiff wohl nach einem Vierteljahr in der gleichen Verfassung kreuzen konnte wie damals. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihr auf.
»Guillermo«, fragte sie mit fester Stimme, »hast du die »Quebec« lange beobachtet? Sie müssen uns doch auch erkannt haben. Wie reagieren sie?« Guillermo trat verlegen von einem Bein auf das andere.
»Nein, Senorita, ich bin gleich zu Euch gestürzt, nachdem mir der Ausguck gemeldet hatte, was er vor seinem Rohr sah. Ich wies ihn an, die Sache vorläufig noch für sich zu behalten.« »Das war sehr klug von dir. Komm jetzt an Deck. Ich möchte das Schiff beobachten. Dabei kannst du mir helfen.«
Sie stiegen die Treppe empor und ließen ihre Blicke in die Runde schweifen. Es war nichts zu sehen.
Die Gräfin rief den Mann aus dem Ausguck herab. Der kam mit bleichem Gesicht herunter, blickte sich scheu um und flüsterte:
»Senorita, es war nicht die »Quebec«, es war ein Gespensterschiff; denn noch während ich es im Glas hatte, verschwand es in den Fluten.« Marina krauste die Stirn.
»Erzähl nicht solchen Unsinn. Es gibt keine Gespensterschiffe. Ich werde in den Korb steigen und selbst beobachten. Ihr paßt auf, daß mich niemand sieht.«
Die beiden nickten eifrig. Guillermo war gar nicht mehr so sehr für einen Angriff. Er hatte, wie jeder echte Sohn des Meeres, Angst vor dem Gespensterschiff. Vielleicht war es gar der »Fliegende Holländer«, der sich dem Ausguck als die »Quebec« gezeigt hatte? Marina stieg immer höher. Als sie den Mastkorb erreicht hatte, ließ sie ihr Glas im Kreise schweifen. Weit und breit war nichts zu sehen. Im Gegenteil, dort hinten, dicht am Horizont, wie es schien, lagerten Dunstwolken auf der Wasseroberfläche.
Schon wollte die Gräfin wieder hinunterklettern, als sie überrascht einen Ausruf unterdrückte. Direkt aus dieser Dunstwolke fuhr jetzt ein Schiff heraus. Man konnte es deutlich sehen. Ja, das war die »Quebec«. Welches Schiff würde sich sonst mit einer solchen Takelage auf dem Wasser herumtreiben? Nun, es mochte noch andere Seefahrer geben, denen es ähnlich ergangen war. Aber das da jedenfalls war die »Quebec«. Man konnte sie deutlich an der Bauart erkennen, eine typische Fregatte.Die »Trueno« hatte direkten Kurs auf das untüchtige Schiff, das mit vielleicht vier Knoten dahinkroch.
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