Marina behielt ihren Platz bei. Das Rohr vor ihrem Auge zitterte. Ihre Hände wurden feucht vor Aufregung. Näher und näher kam die »Trueno«heran. Jetzt konnte man schon die einzelnen Aufbauten, soweit sie noch vorhanden waren, unterscheiden.
Doch es regte sich nichts an Bord. Die Frau im Mastkorb konnte nicht einen einzigen beweglichen Punkt erkennen.
Sie setzte das Sehrohr ab und rieb sich die Augen. Dann setzte sie es wieder an. Die Entfernung verringerte sich zusehends. Keine Menschenseele war zu sehen.
Nun waren die beiden Schiffe keine dreihundert Fuß mehr voneinander entfernt. Marina stieg eilends hinab. Ihr Gesicht war hochrot vor Aufregung.
Auf dem eigenen Schiff war es inzwischen lebendig geworden. Man hatte auch ohne Aufruf das fremde Fahrzeug bemerkt. Alles drängte sich an der Reling.
»Längsseits gehen!« durchschnitt plötzlich Marinas scharfe Stimme die morgendliche Beschaulichkeit.
»Senorita?« fragte Guillermo verblüfft. »Wir sind noch gar nicht auf einen Kampf vorbereitet. Ich werde Befehl geben, die Enterbrücken zurechtzumachen und die Säbel umzuschnallen.« Marina starrte erneut durch das Glas. Ihr Stimme war belegt, als sie jetzt antwortete: »Die Säbel könnt ihr lassen, wo sie sind. Und Enterbrücken brauchen wir höchstens eine.« Verwundertes Staunen ringsum, das aber noch wuchs, als man nur noch wenige Schritte Entfernung zwischen sich hatte und drüben immer noch keine Menschen entdecken konnte. Die Korsaren bekreuzigten sich. Niemand hatte sonst eine vernünftige Erklärung zur Hand. Das Manöver war ausgeführt. Bord an Bord lagen die Schiffe.
»Komm mit hinüber, Guillermo«, sagte die Gräfin und spürte zum erstenmal, daß ihr Erster Offizier Angst hatte.
Schließlich nahm er sich zusammen und folgte ihrem Befehl. Die anderen waren froh, von dieser unheimlichen Aufgabe verschont zu bleiben. Sie erinnerten sich noch gut an den Silbador. Es war wahrscheinlich ein verhängnisvolles Wiedertreffen. Vielleicht hatte der Teufel inzwischen seinen Pakt mit ihm für abgelaufen gehalten und ihn zu sich geholt oder ihn verdammt, ewig auf diesem Gespensterschiff herumzufahren. Wer konnte es wissen?
Marina schritt allein über die schwankende Seilbrücke. Es war in den Augen der Mannschaft eine bewundernswürdige und mutige Tat, die sie da vollbrachte. Dabei spürte sie selbst das ganze Grauen, das aus der unheimlichen Stille um sie herum erwuchs.
Jetzt ging sie langsam, Schritt für Schritt über die Planken. Da, was war das? Ein Toter, dessen Fäuste im Krampf den abgeschlagenen Hahn eines Wasserfasses hielten. Ein eisiger Schreck durchzuckte die Einsame.
Trotzdem ging sie weiter. Am Heck, wo die Fässer standen, lagen tote Männer mit stieren, in die aufgehende Sonne gerichteten Augen. Ein gräßlicher Anblick.
Zehn, zwölf Leichen, denen man ansah, daß sie dem grausamsten aller Tode, dem Tod des Verdurstens, erlegen waren. Der Wahnsinn stand noch auf ihren verzerrten Gesichtern.Ein Schauer durchlief die Gräfin. Sie fühlte sich plötzlich verlassen. Sie preßte die Hände vor die Brust, um nicht aufzuschreien. Sollte sie es wagen, in das Schiff hinabzusteigen? Sollte sie — — — allein? Sie wagte es.
Stufe für Stufe schritt sie die Treppe zum Kabinendeck hinunter, immer gefaßt, über weitere Leichen zu stolpern.
Jetzt gelangte sie an die Kojen. Und diesmal konnte sie einen entsetzten Aufschrei nicht unterdrücken. Hier lagen Menschen, die sich gegenseitig in rasendem Irrsinn die Kehlen durchschnitten hatten, um mit dem Blut des Ermordeten den eigenen Durst zu stillen. An jeder Koje lagen sie, in den entsetzlichsten Stellungen.
Marina nahm sich zusammen. Noch glomm ein Funke der Hoffnung in ihr. Weder vom Silbador noch von den Spaniern und diesem deutschen Grafen hatte sie etwas gesehen. Wo mochten sie sein?
Sie war an die Tür der Kapitänskajüte gelangt und drückte die Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen. Sie begann mit den Fäusten dagegen zu hämmern. Anfangs rührte sich nichts. Dann kam eine heisere Stimme:
»Ihr glaubt wohl, ich mache euch auf, was? Nein! — Nein! — Nein! Ich will nicht verdursten —
— ich nicht! Ich will mein Wasser allein trinken--allein trinken--allein trinken--
ja, ja — —. Macht, daß ihr wegkommt, ihr Hunde, weg von der Tür, sonst schieße ich!«
Die Worte waren deutsch gesprochen. Marina verstand sie nicht und blieb wie angewurzelt stehen.
Da waren Menschen, vielleicht saßen sie alle dort, alle, die einmal ihre Gefährten auf der »Trueno«gewesen waren, bevor sie — —
Das Gefühl einer furchtbaren Schuld stieg in ihr auf.
Wieder hämmerte sie gegen die Tür.
»Get the door open--get it open---help's coming. — Why don't you open? — öffnet
--so öffnet doch--ich bringe Hilfe. Warum öffnet Ihr nicht?«
Drinnen blieb es eine Weile still. Dann kam plötzlich ein Kichern.
»Ha — — ha — — ihr wollt mich wohl zum Narren halten, Kerls? Mich betrügt ihr nicht. Ha —
— ha--ha--mein Wasser bekommt ihr nicht! Haut ab, sonst schieße ich!«
»Könnt Ihr nicht englisch reden?« schrie Marina, die wieder nichts verstanden hatte.
Als Antwort krachte ein Schuß. Die Kugel schlug dicht neben ihrem Kopf durch die Türfüllung. Marina sah ein, daß sie auf diese Weise nicht weiterkam. Sie wandte sich um und rannte, als sei der Teufel hinter ihr her, den Gang entlang. Mit einigen pantherhaften Sätzen war sie an Deck. In der frischen Luft erhielt sie ihre Fassung zurück.
»Sie sind alle tot — bis auf einige, die sich in der Kajüte des Kapitäns verbarrikadiert haben, Guillermo«, sagte sie mit schwacher Stimme, als sie wieder auf den Planken des eigenen Schiffes stand.
»Tot?« fragten einige der Umherstehenden verwundert, »ermordet?« »Nein, verdurstet — — verdurstet«, wiederholte sie still für sich, »alle verdurstet — —« Die Korsaren, die weder Teufel noch Tod fürchteten, wenn sie ihnen während eines Kampfes offen ins Angesicht schauen konnten, bekreuzigten sich.
»Santa Maria, Madre de Dios, beschütze uns«, murmelten automatisch die Lippen.»Wer geht nun mit mir hinüber? Wir müssen die Lebenden aus der Kajüte befreien.« Es meldeten sich ein paar Beherzte; Guillermo war selbstverständlich auch dabei. Mit Äxten bewaffnet schritten sie über das leichenbesäte Deck der britischen Fregatte. Die Treulosigkeit, die die Mannschaft an den spanischen Kameraden begangen hatte, hatte sich bitter gerächt. Das Schicksal, das sie ereilt hatte, mußte furchtbar gewesen sein. Den Korsaren stand das Grauen in den Augen, als sie die Treppe hinunterstiegen. Vor der Tür machten sie halt. Marina hämmerte wieder mit den Fäusten dagegen. Die Insassen hatten sich jetzt wahrscheinlich auf einen Angriff vorbereitet. Niemand antwortete.
»Schlagt mit den Äxten zu, aber springt sofort zur Seite. Sie werden schießen, glaube ich.« Acht Beile krachten gegen die Füllung.
Ein Schuß antwortete von drinnen. Die Kugel richtete jedoch keinerlei Schaden unter den Piraten an. Wohl ein dutzendmal wiederholten sie nun das gleiche Manöver. Dann schienen den Belagerten die Kugeln ausgegangen zu sein.
Mit den Äxten war bald ein Riß in die Tür geschlagen. Man wartete noch eine Weile.
Es folgte kein Schuß mehr.
»Get out — Kommt heraus!« sagte Marina.
»Eine Frauenstimme?« fragte drinnen jemand verwundert auf deutsch. Dann steckte dieser Jemand den Kopf durch den Spalt. Es war Graf Eberstein. »Großer Gott!« schrie er entsetzt, »das Seeräuberweib!« Zum Glück verstand ihn niemand.
»So sprecht doch englisch«, sagte die Gräfin unwirsch, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte. Eberstein kletterte unversehrt aus der Kajüte und sah die Korsaren mit ziemlich blödem Gesichtsausdruck an. Trotz allem schien er sich recht wohl zu fühlen. Er versuchte eine Verbeugung, die allerdings mißglückte. »Sprecht, wo sind die anderen?«
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