Michel stieß einen Pfiff aus, wie um seine Gedankengänge damit zu unterstreichen. Jetzt war man nun hier, hatte schon die Vorläufer des Atlas überwunden, würde auch das Gebirge bald hinter sich lassen und dann — — — dann gab es so gut wie keine Rettung mehr. Die algerischen Steinbrüche am Rand der Wüste hatten noch keinen Menschen wieder hergegeben. Die Wächter erzählten in ihrem Kauderwelsch oft, daß selbst Eingeborene es höchstens zwei bis drei Jahre aushielten, bis sie den fürchterlichen Anstrengungen erlagen. Wie lange würde da wohl ein Ausländer — — —?
Weiter, immer weiter ging der Zug. Es war ein Glück, daß die Kamele hier auf dem steinigen Boden langsam gehen mußten, obgleich die Reiter am liebsten nur Trab geritten wären. Doch da sie es nicht ändern konnten, begannen sie von Sattel zu Sattel laut schreiend eine Unterhaltung zu führen. Wild mit den Händen gestikulierend, schienen sie sich immer mehr in die abgründigsten Themen zu verstricken; denn es hagelte nur so Allahs und Mohammeds.
Deste, der neben Michel einherwankte, hatte plötzlich ein Grinsen auf dem Gesicht.
»Wozu die Burschen dauernd Allah und ihre siebenhimmlige Ewigkeit anrufen, ist unglaublich.«
»Worum geht's?« fragte Michel, dem die Ablenkung willkommen war.
»Sie wetten bei allen Marabuts, daß der Daj mit riesiger Beute von seinem Feldzug gegen die Spanier heimkehren wird, und daß sie von da an mehr Sold erhalten werden. Sie rechnen sich aus, daß sie zu dritt jeweils eine Frau kaufen könnten, alles im Namen Allahs und mit Hilfe des Propheten.«
Michel blickte sich um und betrachtete die Unglücksgefährten.
Bisher hatten sie alles leidlich überstanden. Selbst der alte Kapitän Porquez taumelte noch immer hinter seinem Kamel her. Er war ein zäher Bursche. Am meisten mitgenommen schienen Ibn Kuteiba, der gelehrte Steuermann, und der kleine Jardin. Abu Hanufa trug sein würdigstes Gesicht zur Schau. Über seine Lippen war noch nicht ein Klagelaut gekommen. Und Ojo war, was das Laufen anbelangte, einfach nicht zu übertreffen. Seine Zähigkeit schien keine Grenzen zu kennen. Er hatte es schon mehrmals fertigbekommen, in der Nähe von Brunnen einfach seinen Schritt dorthin zu lenken, wobei ihm das Kamel folgen mußte; denn seine Bärenkräfte waren so ungeheuerlich, daß selbst der Reiter nicht imstande war, das Tier in eine andere Richtung zu zwingen.
»Wie ist das, Doktor, meint Ihr, daß wir hier jemals wieder herauskommen? Ich habe nicht viel Hoffnung.«
Michel nickte nachdenklich.
»Wir werden zumindest alles versuchen. Am schlimmsten ist es, daß der Schuft, dieser Hussejn, mein Gewehr in Algier behalten hat. Wenn es einer von diesen Burschen hier bei sich trüge, so hätten wir wenigstens eine wirksame Waffe in Aussicht. Andererseits frage ich mich schon die ganze Zeit, wie wir ohne ein Messer unsere Fesseln zerschneiden sollen. Die Knoten bekommen wir niemals auf.«
Michel erhielt plötzlich einen Stoß mit dem Gewehrkolben.
»Kelb ibn Kelb!«, schrie ihn einer der Wächter an. »Was hast du hier zu erzählen? Bei Allah, ich haue dir das Gehirn aus dem Kopf, du stinkender Giaur!«
Michel hatte zwar nicht alles verstanden, jedoch war der Ton deutlich genug, und es bedurfte keiner Übersetzung, ihm den Sinn der Worte klar zu machen. So trottete er weiter hinter dem Kamel her.
Am Fuß des südlichsten Atlasausläufers liegt heute die Stadt El Mengub; zur Zeit, da unsere Geschichte spielt, war es noch ein kleiner, unbedeutender Flecken, der seine traurige Berühmtheit lediglich den Steinbrüchen verdankte, in denen täglich die Menschen wie Fliegen dahinstarben.
Der Höhenzug, an dessen Fuß El Mengub liegt, bildet die nördliche Grenze des Gebietes der Uelad Sekri, der Uelad Mulat und der Schebka-Stämme, die alle zum großen Tribus der Beni Msab gehören. —
Von Norden her näherte sich der Kamelreiterzug, zehn Tiere stark, an deren Sattelgurten unsere Freunde hingen. Zu Tode erschöpft, wurden sie mehr geschleift, als sie gingen. Die Kamele liefen jetzt in scharfem Trab.
»Ho! — Heh! — Jallah!« schrien die Reiter, die froh waren, endlich das Ziel ihres Ritts zu erreichen. »Lauft, ihr Hunde, lauft! Oh, daß euch Allah verderben möge, ihr verfluchten Giaur!«
Michel hielt sich verhältnismäßig gut. Immer und immer, wenn sein Körper versagen wollte, befahl er ihm durchzuhalten. Er wollte sein Leben nicht hier beschließen. Deste stöhnte und fluchte leise vor sich hin. Ihn hielt einzig sein eiserner Wille aufrecht. Seine Füße waren zu dicken, blutigen Klumpen angeschwollen.
Und Jardin, der kleine Jardin? Er hielt die Augen geschlossen und war wohl halb besinnungslos. Nur die unaufhörlich rinnenden Tränen verrieten, daß er im Weinen Erleichterung suchte. Ähnlich wie Jardin ging es dem gelehrten Steuermann der »Medina«.
Abu Hanufa lief dagegen wie eine Maschine. Nicht ein einzigesmal war der Laut einer Klage über seine Lippen gekommen. Seine Haltung war mustergültig; er erinnerte an einen zu Unrecht verurteilten Edelmann.
Am unverwüstlichsten war Ojo. Seine Kräfte schienen nie zu erlahmen. Seit vier Tagen trug er schon den alten Kapitän Porquez auf seinen Schultern. Der alte Mann war zusammengebrochen. Sein erbarmungsloser Reiter hatte ihn über eine Strecke geschleift, bis es Ojo zu dumm wurde. Der Herkules blieb einfach stehen, zog das Kamel mit seinem Reiter neben das des alten Kapitäns, lud sich diesen auf die Schulter und trottete, als sei nichts geschehen, weiter. Dieser Beweis seiner nicht zu brechenden Kraft nötigte selbst den Wächtern ein achtungsvolles Staunen ab. Sie hatten irgendwie Angst vor ihm, und er kam ihnen unheimlich vor. So ließen sie ihn gewähren.
Unvermittelt hielt der Spitzenreiter, der Zugführer, sein Tier an und blickte gespannt nach Westen.
Von dort näherte sich eine riesige Staubwolke. Sie mußte von vielen Menschen herrühren; denn der Staub war trotz des geröllübersäten Bodens so dicht, daß sich der Himmel zeitweise verfinsterte.
Die Reiter wurden aufmerksam. Michel flüsterte: »Vielleicht irgendein Berberstamm, der gegen den Daj und seine Janitscharen zu Felde zieht---?«
»Herrgott«, stöhnte Deste. »Ihr meint vielleicht gar eine Rettung? Das wäre wunderbar.« »Frage Ibn Kuteiba, was er davon hält.«
Deste wandte sich an den Steuermann.Doch der zuckte nur die Achseln.
»Ich glaube nicht, daß es uns besser gehen würde, wenn wir in die Hände von Berbern fielen. Diese Stämme kennen noch weniger menschliche Regungen als die Araber. Sie haben nur ein Ziel: Beute.
Es kann durchaus sein, daß in ein paar Minuten unsere Wächter ebenso gefesselt sind wie wir.« »Nichts!« flüsterte Deste Michel zu. »Er glaubt nicht an Rettung.« Destes Kameltreiber hatte wohl gemerkt, daß sein Gefangener sich mit Ibn Kuteiba über irgendetwas verständigt hatte. Und er sah auch, wie er nun Michel die Botschaft weitergab. Aber merkwürdigerweise reagierte er nicht darauf. Eine fiebernde Unruhe hatte sich der Janitscharen bemächtigt. Ihre Uniformen waren zu bekannt, als daß man sie übersehen hätte. Die Staubwolke kam immer näher. Doch noch immer konnte man keine Einzelheiten unterscheiden.
Der Zugführer sagte etwas auf arabisch. Destes Gesicht leuchtete auf.
»Doktor, sie beraten, ob sie uns freilassen sollen, weil wir sie an einer etwaigen Flucht hindern würden.«
Doch kaum hatte er das gesagt, da wechselte der Ausdruck in seinem Gesicht. Schrecken stand jetzt darin. Die Reiter hatten sich geeinigt, die Gefangenen bei Gefahr zu erschießen.
»Sag es nicht weiter«, zischte Michel, »sonst gibt es unnötige Aufregung, dann schießen uns die Kerle womöglich gleich zusammen. Wir müssen kaltes Blut bewahren.«
»Wir sollten versuchen, uns zu befreien! Ich werde meinem Wächter den Krummsäbel zu entreißen versuchen. Wir müssen---«, sagte Deste hastig, und kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er wollte vorwärtsstürzen. Michel wußte sich nicht anders zu helfen, als ihm ein Bein zu stellen.
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