Ojo konnte sich leicht erklären, was das hieß. Er sollte seine Kräfte für die Kameraden einsetzen.Plötzlich durchgellte ein Pfiff das Tohuwabohu, so laut und so durchdringend, daß die Unentwegten für einen Augenblick einhielten und erschrocken zusammenfuhren. Diesen Augenblick benutzte Ojo und warf sich mit seiner ganzen Körperkraft zwischen die Meute. Er erreichte das Gitter, riß einen Fladen nach dem anderen an sich, die er blitzschnell Michel zuwarf, zu dessen Füßen sich das nasse Brot häufte.
Noch ehe sich die Gierigsten zur Wehr setzen konnten, schnellte Ojo zurück, baute sich vor dem Pfeifer auf, und streckte den Wütenden drohend seine Riesenfäuste entgegen. Michel verteilte den Brothaufen schnell und mit sicherem Blick an seine Freunde, den Pfarrer und diejenigen, die bisher durch ihre geringen Kräfte kaum je etwas erhalten hatten. »Dank, vielen Dank, companero«, waren die dankbaren Rufe der so Gespeisten. Ojo trat zur Seite, und Michel stieß abermals einen Pfiff aus, dem augenblicklich Ruhe folgte. »Hört, amigos«, schrie er die Soldaten mit gewaltiger Stimme an, »ab heute verteile ich das Essen, und zwar so, daß jeder den gleichen Teil bekommt. Und denjenigen, der mir nicht gehorcht, den schlage ich mit diesen meinen gefesselten Händen tot, verstanden?« »Vermaledeit — — Lump!« schrie einer der Stärksten. »Was fällt dir ein, Mensch, über uns zu befehlen? Wage nicht noch einmal, mich beim Essen zu stören, sonst könnte es anders kommen und du bist die Leiche.«
Ojo kroch auf den Schimpfenden zu und wollte sich auf ihn stürzen. »Bleib zurück, Diaz! Ich will mit diesem Kerl reden«, sagte Michel.
Dann wandte er sich an den vierschrötigen Burschen. »Wie kommst du darauf, companero, von uns zu verlangen, daß wir wegen deiner Gefräßigkeit alle verhungern sollen? Hast du niemals das Wort Kameradschaft gehört? Stecken wir nicht alle im selben Dreck? Antworte! Woher nimmst du die Unverschämtheit, den größten Teil des Brotes zu beanspruchen, Mensch?« »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig«, brummte der andere, dem es bei den letzten Worten irgendwie unbehaglich geworden war; denn er blickte ringsum in ablehnende Gesichter. »Mir nicht«, gab Michel zurück, »aber den anderen hier bist du Rechenschaft schuldig. Ich glaube nicht, daß sie sich mit deiner Eigensucht ohne weiteres abfinden werden.« »Ich bin der Stärkere!« sagte der Soldat selbstbewußt. »Und ich lasse mir nicht befehlen, noch dazu nicht von einem Menschen, der allem Anschein nach nicht zur Armee gehört. Ich bin ein Soldat des Königs von Spanien, verstanden?«
»Nun, wenn dein König nur solche Soldaten hat, so ist es kein Wunder, wenn er die Schlacht gegen den Daj von Algier verliert. Ich bedaure ihn; denn Soldaten von deinem Schlag sind Schweine--verstanden! — Schweine!«
Der Gemaßregelte fuhr wütend auf und versuchte, sich Michel zu nähern. Hochrot im Gesicht arbeitete er sich mühsam durch den Berg von Leibern, der den Boden bedeckte. Seine Kette ließ ihm einigen Spielraum.
»Komm mir nicht zu nahe«, sagte Michel, »du stinkst. Ich möchte mich nicht durch dich beschmutzen. Adelante -hau ab!«
Der Soldat jedoch kroch immer näher. Jetzt hatte erMichels Füße erreicht. Ojo zitterte bereits vor Ungeduld. Er hätte den Burschen am liebsten sofort in Stücke gerissen. Michels Gesichtsausdruck war ruhig. Keine Wimper zuckte.
Der Angreifer griff nach seinen Füßen.
Da war Michel trotz der unsäglichen Schmerzen, die er dabei erlitt, auch schon auf den Beinen und zog den Wütenden mit sich hoch.
Nun standen sie sich gegenüber.
»Du hast mich beleidigt!« schnaufte der Soldat.
»Nimm deine Zunge in acht, du gefräßiger Lümmel!« war die scharfe, aber trockene Antwort Michels.
»Wa—a—a—as?« Der Landsknecht holte aus. Die Ketten rasselten. Aber plötzlich fühlte er selbst einen ungewöhnlich harten Schlag am Kopf. Noch einen und noch einen. Dann sackte er lautlos zusammen.
Michel hatte ihn niedergeschlagen.
Bewundernde Blicke hefteten sich auf ihn.
»Hört zu, companeros, ihr habt nun gesehen, wer hier der Stärkere ist. Glaubt mir, ich will euch nicht um das Brot bringen. Ich will nur, daß jeder den gleichen Teil bekommt. Von morgen ab verteile ich die ganze Ration, nachdem sie mein Freund hier aus dem Wasser gefischt hat. Wer zu mir hält, wird noch einmal deswegen froh sein.« Ohne eine Antwort der anderen abzuwarten, setzte er sich nieder.
»Der Mann hat recht«, sagte da eine dunkle, wohlklingende Stimme. Es war die des Pfarrers. »Jeder einzelne muß in dieser Lage beweisen, daß der Nachbar auch sein Bruder ist. Es ist nicht nur das Gebot unseres Herrn Jesu Christi, es ist auch ein Gebot der Selbsterhaltung. Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, so werden wir hier nie wieder herauskommen. Betet jetzt und dankt dem Herrn für das Brot!«
Der letzte Satz war mit barscher Stimme gesprochen. Aber es stellte sich heraus, daß der Pfarrer seine Leute kannte. Sie gehorchten. Und allenthalben falteten sich die zerschundenen, blutigen Hände.
Michel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ihm fiel es nicht ein, auch noch für das aufgeweichte Brot ein Dankgebet zu sprechen. Es mutete ihn fast komisch an, daß hier ein aufrechter Mann, wie dieser Pfarrer, die Beibehaltung des Gebetes allen Dingen voranzusetzen schien.
Der Pfarrer blickte vorwurfsvoll auf Michels Hände und dann in sein Gesicht; aber er schwieg. Und das war gut so. Ein Streitgespräch für und wider das Beten hätte zu dieser Stunde und in diesem Kreis nur Verwirrung gestiftet.
Der noch immer Besinnungslose wurde von denen, die an ihn gefesselt waren, wieder auf seinen Platz gezogen. Als er erwachte, blieb ihm nichts weiter übrig, als zu schweigen. Zu später Nachtstunde erwachte Michel. Er hatte den Eindruck, daß ihn jemand anrief. Und er täuschte sich nicht.
»Senor«, flüsterte eine verhaltene Stimme, »Senor, schlaft Ihr bereits?« Es war der Pfarrer.
»Nein«, wisperte Michel zurück, so leise es nur irgend ging; denn zwischen dem Pfarrer und ihm lagen Ojo, Deste und Jardin.
»Ich kann nicht schlafen, Senor. Ich möchte mich gern ein wenig mit Euch unterhalten.«Michel brauchte sich gar nicht erst aufzurichten; denn Platz zum Ausstrecken hatte er ohnehin nicht gefunden.
»Tut Euch keinen Zwang an, Vater«, entgegnete er, »soll es ein theologisches, ein weltanschauliches Thema sein?« Einen Augenblick war Schweigen.
»Wohl auch das«, meinte der Pfarrer. »Ich glaube, Ihr habt Bedenken?«
»Nicht meinetwegen. Padre, sondern wegen derjenigen, die etwa zufällig zuhören könnten.
Sprecht Ihr eine fremde Sprache?«
»Mehrere, Senor---.«
»Baum ist übrigens mein Name, Michel Baum.«
»Michel? So seid Ihr gewiß ein Deutscher?«
»Ihr habt recht. Sprecht Ihr Deutsch?«
»Ich fürchte, nicht gut genug. Wie steht es mit Englisch?«
»Well«, antwortete Michel auf Englisch. »I will try to make myself clear enough. Let's talk. — Ich werde versuchen, mich so gut wie möglich verständlich zu machen. Unterhalten wir uns.« »Ich glaube, Ihr sprecht es sogar besser als ich«, meinte der Pfarrer. »Ihr wart so nett, Euch vorzustellen, mein Name ist Pater Geronimo Alvarez.«
»Namen sind Schall und Rauch. Darf ich Euch einfach »Father« — Vater — nennen?« »Ich bitte darum.«
»Also gut, Father, was liegt Euch so dringend am Herzen, daß Ihr Euch um Eure eigene Nachtruhe bringt?«
»Well, Mr. Baum, vorhin, als ich zum Gebet aufrief, da lächeltet Ihr ein wenig geringschätzig — ein wenig zu geringschätzig fast, möchte ich sagen. Seid Ihr ein Gottesverächter?« »Ihr fragt mich sehr offen«, erwiderte Michel, »so müßte ich auch offen antworten.« Er lächelte ein wenig müde, als er fortfuhr. »Nein. Ich bin kein Gottesverächter. Aber ich glaube, ich habe eine vom Üblichen etwas abweichende Religion. Ich will damit sagen, daß ich ganz undogmatisch bin.«
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