»So seid Ihr ein Protestant, ein Lutheraner?«
»Auch nicht, Father, ich möchte gern ein Mensch sein.«
Es trat eine Pause ein, ehe der Pater entgegnete.
»Das verstehe ich nicht. Stellt Ihr vielleicht das Menschliche vor das Christliche?« Michel konnte eine leichte Erregung nicht verbergen, als er sagte: »Ich glaube, man kann nur ein Christ sein, wenn man ein Mensch ist, nicht ein weiser Mensch, sondern ein humaner Mensch. Versteht Ihr das?«
»Nun, auch ich habe humanistische Bildung genossen und bin ein Christ.«
»Well, es ist Euer Beruf, gut zu sein. Außerdem schließt das eine nicht das andere aus. Aber auch diese spanischen Soldaten, die hier um uns herumliegen, sind Christen. Ihr habt gesehen, wie sie ihr Christentum vergessen, wenn es sich um ein Stück Brot handelt.«
»Ihr urteilt zu scharf. Der Mensch ist gut. Man muß ihn nur richtig leiten.«
Michel zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Er wollte den Pater nicht beleidigen. Doch dann meinte er:
»Dann müssen die meisten Christen, mit denen ich bisher zu tun gehabt habe, schlecht geleitet gewesen sein. Manche von ihnen waren recht gute Christen, aber leider keine — Menschen.« Der Pater ahnte, daß Michel viele erschütternde Erlebnisse gehabt haben müsse, und fragte ihn danach voller Anteilnahme. Doch er bekam nur eine vage Antwort:»Es ging. Es hätte schlimmer sein können. Ihr müßt wissen, ich war Arzt auf einer Seeräubergaleone. Außerdem bin ich ein fahnenflüchtiger Musketier, den man wider seinen freien Willen zur Armee gepreßt hat, nachdem man ihn zuerst wegen einer Geringfügigkeit zu langer Festungshaft verurteilt hatte. Und das alles im Namen Seiner allerchristlichsten Hoheit des Landgrafen von Hessen-Kassel. Well, da habe ich beschlossen, nach meinem eigenen Gesetz zu leben.« »Ihr seid Arzt?« »Ja.«
»Wo habt Ihr studiert?« »In Rostock.«
»Und habt Ihr praktisch gearbeitet?«
»Kurze Zeit — in Berlin.«
Der Pfarrer schwieg nachdenklich.
»Dann kann ich Eure Ansichten verstehen. In Berlin regiert ja ein König, der das Wort geprägt hat: Jeder werde nach seiner eigenen Facon selig! Ein Gottesleugner also«, fügte er in scharfem Ton hinzu, »denn es gibt nur eine seligmachende Facon. Und das ist die Kirche.« »Ich möchte eher sagen, das Herz«, wandte Michel ruhig ein. »Der Preußenkönig hat gewußt, daß wir zuerst zu Menschen werden müssen, menschlich sein müssen, versteht Ihr, bevor wir über Gott reden dürfen.«
»Gute Nacht, Doktor«, sagte der Pater unvermittelt.
»Seid Ihr nicht ein wenig unduldsam, Father? Warum brecht Ihr das Gespräch plötzlich ab, wo Ihr es doch selbst begonnen habt?« fragte Michel verwundert. »Ich dachte, ich könnte Euch bekehren!«
»An mir ist nichts zu bekehren«, erwiderte Michel, »vielleicht schleift mich die Zeit ab, vielleicht werde ich in meinem Leben noch andere Ansichten vertreten als heute, durchaus möglich. Bekehren kann mich ein Mensch nicht. Ich finde, man selbst muß zuweilen Einkehr halten, wenn man wissen will, woran man ist.« »Glaubt! Das ist das beste Rezept.«
»Aber »Suchet, so werdet ihr finden, steht in der Bibel. Ihr seht, es ist nicht so einfach.« Der Padre schwieg lange, dann wünschte er dem Pfeifer »Gute Nacht«. »Gute Nacht«, antwortete Michel.
Seine Gedanken schweiften weit weg. Sie flogen über das Mittelmeer, nahmen ihren Weg über die Alpen und liefen zum Schluß in Kassel über den Marktplatz bis zu jenem Haus, in dem ein Mädchen wohnte, das zu dieser Stunde vielleicht für ihn betete und das ihm einmal so tapfer beigestanden hatte. Ob Charlotte wußte, wie schlecht die Welt sein konnte? Eberstein, dachte Michel plötzlich, wo mochte der Schuft jetzt sein? War er wohl mit seinen Soldaten nach England gekommen und von dort aus wieder nach Amerika eingeschifft worden? Dann schob sich wieder das Bild der Gräfin de Villa-verde y Bielsa zwischen seine Gedanken. Verführerisch schön war ihr Gesicht. Deutlich sah er den Kontrast zwischen den rötlichen Haaren und den dunklen, fast schwarzen Augen. Hatte er nur üble Erinnerungen an ihr Dasein? Nicht gar so schlimme. Eberstein war schlechter, viel schlechter; weil er klein und kleinlich war, ein Mensch, der sich selbst um den niedrigsten Vorteil verkaufen würde. Würde er ihn je wiedersehen —?
Michel war noch immer hellwach, als das Singen des Muezzins vom Minaren der nahen Moschee herüberklang. Es war um die Stunde des Morgengebets. Das erste Grau eines neuen Tages kam herauf.
»Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Lob und Preis sei Allah, dem Weltherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts — — —«
Die Tage und Wochen schlichen dahin. Immer unerträglicher wurde die Hitze. Unter den Sträflingen im Steinbruch von El Mengub herrschte der Tod und raffte die Menschen dahin. Es war Michel, Ojo und dem arabischen Kapitän Abu Hanufa zu verdanken, daß ihre Gruppe durchhielt.
Ojo schuftete für drei und verrichtete die Arbeit des alten Porquez mit, so daß dieser nur dann wirklich heranmußte, wenn der Posten zu nahe war. Ebenso verhielt es sich mit dem kleinen Alfonso Jardin, der von Tag zu Tag gleichgültiger wurde. Er tat so gut wie nichts. Ojo übernahm auch seinen Teil.
Michel und Abu Hanufa griffen zu, wenn die anderen nicht mehr weiterkonnten. Deste war nur als halbe Kraft zu werten. Er verfiel sichtlich. Von Ibn Kuteiba gar nicht zu reden. Auch hatte sich Padre Geronimo enger an die Gruppe angeschlossen. Die häufigen Kontroversen mit dem deutschen Doktor brachten etwas Abwechslung in die Eintönigkeit. Man hielt dabei seinen Geist wach und schüttelte die Lethargie ab, die sich immer wieder einzustellen drohte. Von den Mitbewohnern des Krals waren bereits vier gestorben, das heißt, sie waren eigentlich nach und nach totgeschlagen worden; denn die Aufseher kannten keine Gnade, wenn einer sein Arbeitsziel nicht erreichte; das schienen eigens ausgesuchte Menschenschinder zu sein. Michel behauptete allerdings, daß nach und nach jeder Aufseher, mochte er ursprünglich auch einen guten Kern in sich gehabt haben, von Haß ergriffen werde.
Ringsum schien überhaupt alles nur aus Haß zu bestehen. Die Wächter brachten auch nicht einen einzigen Befehl und nicht eine einzige Anweisung über die Lippen, ohne sie mit einem Fluch oder einem Schimpfwort zu verbinden.
Die einzige Berührung mit der Außenwelt, sofern man bei der Bevölkerung von El Mengub überhaupt von einer solchen sprechen konnte, hatten die Sträflinge des Morgens, wenn sie wie Vieh zur Tränke, das heißt an das Ufer des Flusses, der dicht vor ihren Verliesen vorbeifloß, geführt wurden. Ein paar unentwegte Einwohner schleppten um diese Zeit bereits ihre Wasserkrüge. Es waren natürlich nur Frauen, die, tief verschleiert, weder ein Wort sprachen, noch auf eine andere Weise mit den Gefangenen in Verbindung traten. Primitiv, meinte Michel, und er hatte wohl nicht unrecht mit dieser Ansicht. Die Männer der Frauen lagen um diese Zeit noch faul in den Betten oder waren wieder hineingestiegen, nachdem sie als pflichttreue Muslimun ihr Morgengebet verrichtet hatten, Männer, die arbeiteten, schien es in ganz Nordafrika nicht zu geben.
»Doktor«, sagte Deste eines Abends, »weshalb pfeift Ihr gar nicht mehr? So ein tönendes Kunstgebilde, wie es jener deutsche Maestro nach Euern Erzählungen auf der Orgel spielte, könnte uns ganz gut über manche trübe Stunde hinweghelfen.«
Deste meinte Bach, von dem ihm Michel früher zuweilen etwas vorgepfiffen hatte, eine Fuge, eine Toccata oder ein anderes Orgelstück.Michel nickte.
»Du hast recht, Carlos. Ich würde auch wohl öfter pfeifen, wenn ich nicht Angst hätte, daß sich die Posten daran gewöhnen. Sobald sie wissen, daß einer hier ist, der so pfeift wie ich, verlören sie alle Furcht und allen Aberglauben, wenn ich das Pfeifen einmal zu anderen Zwecken benötigen sollte. Du weißt, es hat uns manchmal geholfen, aber nur, wenn es überraschend kam.«
Читать дальше