Deste war zufrieden. Nicht so der Pfarrer.
»Habe ich recht vernommen?« schaltete er sich ein, »Ihr kennt Johann Sebastian Bach, den berühmten Kirchenkomponisten?«
»Ja. Findet Ihr das so unglaublich?«
»Und Ihr verehrt den Maestro?« fragte der Pfarrer weiter.
»Ja, ich liebe Musik. Eure Fragen klingen ein wenig hintergründig, Padre, was wollt Ihr?«
Der Pfarrer ritt sein Steckenpferd. Er schien sich vorgenommen zu haben, Michel aus den Armen der Ketzerei zu reißen, wie er dessen Anschauung von Glauben und Welt nannte.
»Wenn Ihr seine Musik liebt, so müßt Ihr auch Gott lieben; denn diese Musik ist ein Stück von Gott.«
»Aha«, sagte Michel belustigt, »da hinaus wollt Ihr wieder. Habe ich je gesagt, daß ich Gott nicht liebe?«
»Ihr glaubt nicht an die Lehre der alleinseligmachenden Kirche.«
»Ihr weicht vom Thema ab«, sagte Michel versöhnlich. »Bleiben wir bei Bach. Kennt Ihr etwas von ihm?«
»Das will ich meinen. Leider kann ich nicht gut genug singen. Sonst würde ich es Euch beweisen.«
Michel schwieg einen Augenblick. Ihn überkam plötzlich Lust zu pfeifen. Er warf alle Hemmungen beiseite und setzte ein, ganz leise und zart wie eine gedämpfte Violine. Er verwob die Linien der kleinen g-moll-Fuge mit einer solchen Geschicklichkeit und Schnelligkeit, daß es sich anhörte, als gingen sie tatsächlich ineinander über.
Aber vorsichtig hielt er in der Lautstärke zurück. Er drehte sich zur Felsenwand um und pfiff gegen diese. Es konnte kaum ein Ton nach außen dringen. Als er geendet hatte, saß der Pfarrer ganz versonnen da.
»In Spanien gibt es einen Mann, der mag es genau so gut können wie Ihr. Er haust in den Pyrenäen und hat einen Pakt mit dem Teufel. Ein befreundeter Padre berichtete mir von ihm.« Michel horchte auf. Es war finster. Sein Lächeln konnte niemand sehen. »Soso«, meinte er, »einen Pakt mit dem Teufel hat dieser Mann? Wie schade, daß ich ihn nicht kenne. Sicherlich begeht er schlimme Verbrechen?«
»Nein, nein«, sagte der Pfarrer hastig, »das ist ja eben das Wunderbare. Man erzählt sich in ganz Nordspanien Wunderdinge über ihn. Er soll kühn sein, stark wie ein Bär, klug wie ein Fuchs und gut wie ein Lamm. Nur leider pfeift er nicht so schöne Melodien wie Ihr. Seine Musik nennen sie im weiten Umkreis Teufelstriller.« »Wer ist dieser Mann und wie heißt er?«
»Er muß aus Euerm Vaterland stammen. Dort oben nennen sie ihn »E1 Silbador« —»Der Pfeifer«. So wenigstens berichtete mir mein Amtsbruder.«
Michel schwieg wieder. In der Zelle war es mäuschenstill. Vielleicht schliefen die meisten der Insassen bereits. Draußen hörte man den sich entfernenden Schritt eines Postens, der auf seiner Runde hier vorbeigekommen war.Als der Wächter nicht mehr zu vernehmen war, stieß Michel plötzlich ein paar seiner berühmten Triller in schneller Folge aus.
Die Soldaten fuhren erschrocken zusammen. Einige rappelten sich erschrocken auf. Einer fluchte sogar. Er war wahrscheinlich aus dem Schlaf gerissen worden. Padre Geronimo hielt vor Schreck den Atem an. »Meintet Ihr diese Art von Trillern?« fragte Michel.
»Was — was — was ist in Euch gefahren? — Wer — wer — hat Euch das gelehrt?«
»Niemand. — Doch, wartet, der Teufel war's. Ich erinnere mich noch lebhaft an seinen Besuch. Ja, der Teufel in Gestalt eines Kunstpfeifers, der in Deutschland auf den Jahrmärkten herumzog. War wirklich ein armer Teufel, dieser Teufel.« »Warum sagt Ihr ihm nicht, daß Ihr El Silbador seid?« fragte Deste.
»Oh, ich wollte Padre Geronimo nicht zu verstehen geben, daß er sich so dicht in der Nähe eines vom Teufel Besessenen aufhält.«
Die Ketten des Padre rasselten. Er wollte sich wahrscheinlich aufrichten. Jedenfalls meinte er zornig:
»Treibt keine dummen Scherze mit mir, Doktor. Dieser Spaß hier geht zu weit.«
»Es ist kein Spaß, Padre. Ich bin wirklich jener Silbador, von dem Euch der Pfarrer von Bielsa berichtete. Ich habe den Grafen de Villaverde aus seinem Felsenverlies befreit. Glaubt Ihr mir nun, da ich Euch Einzelheiten nenne?«
»Santa Maria!« entfuhr es Geronimo.
»Seid beruhigt«, beschwichtigte ihn Michel, »zu solcherlei Befreiungsakten braucht man nicht extra den Teufel zu bemühen. Er würde sich wahrscheinlich ohnehin für diese Arbeit bedanken. Sie ist ihm zu schmutzig. Padre, glaubt Ihr denn im Ernst, daß ein Mensch aus Fleisch und Blut einen Pakt mit dem Bösen schließen kann? Das sind doch Märchen. Die Zeit der Inquisition, der Hexenverbrennungen und Teufelsaustreibungen ist doch heute überwunden.« »Ich weiß, ich weiß, Ihr lehnt alles ab, was nicht nach Euerm Geschmack ist. Ihr bleibt eben doch ein Ketzer.«
»Nun, vielleicht gelingt es mir, uns alle noch mit Gottes Hilfe hier aus dem Kerker zu befreien. Vielleicht erhalten wir eher Hilfe, als wir denken. Nehmen wir einmal an, es wäre so. Würdet Ihr glauben, daß Gott einem Manne hilft, der ein Ketzer ist?«
Schweigen. Michel wartete vergeblich auf eine Antwort. Der Padre schien die Unterhaltung nicht fortsetzen zu wollen.
Der neue Tag begann, wie bisher jeder Tag begonnen hatte. Am Anfang ertönte der eintönige Sprechgesang des Muezzin. Die erste Sure des Korans war das Alpha und das Omega im Leben eines treuen Dieners des Propheten.
»Jallah! - Jallah!« erschollen dann die Rufe der Wächter.
Die Peitschen knallten ihren gräßlichen Kontrapunkt zu der Melodie des Hasses. Die Gitter öffneten sich, Ketten rasselten. Die Sträflinge wankten hinaus aus den Kralen. Schiebend und stoßend drängten sie sich zum Fluß hinunter, um sich denMagen voll Wasser zu pumpen. Sie tranken nicht etwa so unmäßig, weil sie einen unstillbaren Durst hatten, nein, sie wollten nur das Gefühl haben, voll zu sein, voll von irgend etwas, das dazu angetan war, ihnen für einige Minuten Sattheit vorzugaukeln.
Es gibt nur wenig Menschen, die sich den richtigen Hunger vorstellen können, den langsam zermürbenden Hunger, den Hunger, der keinen anderen Gedanken mehr aufkommen läßt als den ans Essen. Für den, der so hungert, ist Essen schlechthin der Inbegriff des Lebens. Schnelles Verhungern ist eine Gnade gegen den Hunger, mit dem ein Strafvollzugsbeamter einen Sträfling oder auch Tausende von Sträflingen jahrelang zermürben kann. Immer zwischen Hoffnung und Verzweiflung läßt er den Unglücklichen weiterleben. Wenn dieser dann vorzieht, freiwillig ein Ende zu machen, so bekommt er für ein paar Tage die Ration um ein weniges erhöht. Er wird davon nicht satter. Aber er unterläßt den Selbstmord oder schiebt ihn auf, um ihn nach einer gewissen Zeit unter Umständen wieder — aufzuschieben, bis er von selbst hinübergeht, weil Körper und Seele verfallen, denn die Nerven, die alles zusammenhalten müssen, verhungern ohne genügend Nahrung zuerst.
Das war es, wovor sie alle Angst hatten im Steinbruch von El Mengub. Und so tranken sie in sich hinein, was hineinging.
Auch bei dieser Nahrungsaufnahme kamen die Stärksten am besten weg. Sie drängten die Schwächeren einfach beiseite und machten sich breit. Der Egoismus ist der Gefährte des Hungers.
Michels Autorität hatte sich in seinem Kral längst durchgesetzt. Auch die Soldaten hatten gemerkt, daß sie so am besten fuhren. Ihre Reihen hatten sich bisher am wenigsten gelichtet. Sechs Mann hatten sie erst zu beklagen. Das war, an den anderen gemessen, gar nicht der Rede wert.
Heute morgen war Michel wie immer der letzte, der sich zum Trinken niederlegte. Als er satt war und den Kopf von der Wasseroberfläche hob, fiel sein Blick wie zufällig auf eine der arabischen Frauen, die in der Nähe ihren Wasserkrug füllte.
Er hatte den Eindruck, als mache sie ihm mit der Hand verstohlen Zeichen. Michel blieb in seiner Haltung und beobachtete sie aufmerksam. Täuschte er sich? War nur der Wunsch der Vater des Gedankens?
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