Nein. Sie schien wahrhaftig ihn zu meinen. Was mochte sie wollen? Da nahm sie ihren Krug auf den Kopf und ging ein paar Schritte in der Richtung, die auch die Gefangenen in wenigen Minuten einschlagen würden. Enttäuscht wollte sich Michel erheben.
Aber da blickte sie sich wieder um und deutete auf einen in der Nähe liegenden, größeren Stein. Michel sah scharf hin. Tatsächlich, sie ließ etwas fallen, so, daß es genau hinter diesen Stein zu liegen kam.
Ein Fieber packte den Pfeifer. Seine Glieder begannen plötzlich zu flattern. Unruhig streiften seine Augen hin und her.
Hatte einer der Wächter etwas bemerkt?
Nein. Auch die Gefährten waren ahnungslos, niemand schien auf das sonderbare Verhalten der Araberin aufmerksam geworden zu sein.
Der Haufen stellte sich in losen Gruppen auf.
»Jallah! - Jallah!« schrien die Posten.
Der Elendszug setzte sich in Bewegung.
Michel hatte versucht, sich in die rechte Außenreihe zuschmuggeln, was ihm nach einigen kräftigen Stößen auch gelang.
Noch etwa zehn Schritte trennten ihn von jenem Stein. Eins — — zwei — — drei — — vier — —
Da bemerkte Michel mit Entsetzen, daß der Posten, der ein paar Schritte weiter voraus die Sträflinge antrieb, zurückblieb. Verdammt, jetzt lief er neben ihm. Neun — — zehn — —
Er mußte es wagen. Er stieß einen Fluch aus und stolperte, fiel an den Posten, der wütend zur Seite sprang und mit der Peitsche ausholte. Als Michel direkt neben dem Stein flach auf dem Boden lag, sauste die Nilpferdpeitsche auf ihn herab und traf mit sausender Wucht seinen Rücken.
Allein, der Gepeinigte verspürte kaum den Schlag. Er fühlte nicht das Brennen der aufgeplatzten Haut. Ein glückliches Leuchten stand in seinen Augen, als er sich hastig aufrichtete und sich wieder einreihte.
Das, was er da soeben aufgehoben hatte, preßte er an die Brust. Es fühlte sich hart an und zwar ziemlich lang.
»Ist Euch nicht gut, Doktor?« fragte Ojo besorgt, der sich trotz des Scheltens seiner Kameraden zu Michel hindrängte. »Kann ich Euch helfen? Ich werde Eure Arbeit übernehmen.« Michel hatte einen so freudigen Glanz in den Augen, daß ihn Ojo ängstlich anstarrte. Er glaubte, der Unbezwingliche und Unverwüstliche sei wahnsinnig geworden, und bekam einen ungeheuren Schreck.
Michel nahm die Riesenpfote des treuen Begleiters in seine Rechte und drückte sie dankbar. »Mach dir keine Sorgen, Diaz. Ich mußte einfach stolpern, und ich mußte auch lang hinfallen. Danke Gott, daß mir das gelungen ist.«
Diaz Ojo war ein seelenguter Mensch. Aber schnelles Denken war nie seine starke Seite gewesen. Noch immer blickte er zweifelnd auf den Pfeifer, beruhigte sich jedoch, als er keine weiteren Anzeichen beginnenden Wahnsinns an ihm bemerkte. —
Die Arbeit war schwer. Die Finger bluteten, und mehr als einmal sausten die Peitschen der unbarmherzigen Aufseher auf die Rücken der weißen Sklaven.
Michel spürte nichts von alledem. Aufmerksam betrachtete er heute die Umgebung. Nach Süden war ein Entkommen unmöglich; denn dort lag die Wüste. Aber einer Fluchtmöglichkeit galt sein suchender Blick zunächst noch nicht. Er wollte nichts anderes als eine Gelegenheit finden, das Päckchen heimlich zu öffnen und nach einer Botschaft zu durchsuchen; denn die Unbekannte dürfte sicherlich nicht aufs Geratewohl gehandelt haben. Irgendein Plan mußte dem geheimnisvollen Päckchen zugrunde liegen.
So sehr sich Michel auch bemühte, er fand keinen günstigen Augenblick, in dem er eine nachlassende Aufmerksamkeit der Wächter bemerkt hätte. Er konnte sich auch nicht selbst ein wenig abseits halten, denn daran hinderten ihn die Ketten, mit denen einer an den anderen gefesselt war. Die eisernen Ringe lagen wie Klammern um die Handgelenke.
Langsam sank die Sonne hinter den Horizont, und die Gefangenen wankten den Weg in die Verliese zurück. Immer dunkler wurde es. Die Dämmerung in Afrika war kurz. Der Tag ging fast in die Nacht über. Als sie in den Kralen lagen, kam draußen am Himmel der volle Mond zum Vorschein. Michel hätte fast einen Freudenschrei ausgestoßen. Das war das große Wunder. Der Mond spendete so viel Helligkeit, daß man in der Nähe des Gitters ein Buch hätte lesen können.
Als die Fütterung vorüber war, griff Michel unter die Fetzen, die früher einmal sein Hemd gewesen waren, und nestelte das Päckchen hervor.
Mit zitternden Fingern öffnete er es und hielt zwei Gegenstände in der Hand — — eine scharfe Feile und einen---Dolch, um dessen Griff ein Stück Papier gewickelt war.
Michel verbarg die Gegenstände hastig zwischen sich und der Wand.
»Carlos«, flüsterte er Deste zu, »ich möchte ein wenig frische Luft am Gitter schnappen. Nimm du meinen Platz ein.«
Deste gehorchte zögernd. Er sah keinen Grund für das plötzliche Bedürfnis des Pfeifers nach frischer Luft. Michel zerrte an seinen Ketten, bis er am Gitter war, nachdem er auf mehrere Menschen getreten hatte, die wütende Flüche zwischen den Zähnen zerdrückten. Ein Schüttelfrost packte Michel, als er den Zettel mit den wenigen Zeilen ins Mondlicht hielt.
»Senor Baum, seht zu, daß Ihr Euch befreien könnt. Ich warte drei Nächte auf Euch am nördlichen Fuß des Dschebel Arrarat. Bis dorthin ist es von Euerm Verlies aus nicht weiter als eine Meile. Ein Freund.«
Wer mochte der Fremde sein? Der Brief war in spanischer Sprache von einer geübten Hand geschrieben. Das sah man sofort. Gleichgültig. Es war die erste Chance, die Freiheit wiederzugewinnen.
Michel arbeitete sich auf seinen Platz zurück, den Deste sofort verließ.
»Padre«, wandte sich Michel an den Pfarrer, »wie ist es? Ihr habt mir meine Frage von gestern noch nicht beantwortet.« »Welche Frage?«
»Würdet Ihr mich noch für einen Ketzer halten, wenn es mir gelänge, uns alle hier aus dieser Zelle zu befreien?«
»Diese Frage ist müßig, Doktor. Es ist unmöglich, hier herauszukommen. Selbst draußen könnten wir nicht weiter. Die Ketten wären bei einer Flucht unser Verderben.« Michel reichte ihm etwas hinüber. »Was ist das?«
»Befühlt es nur recht sorgfältig. Dann werdet Ihr es schon merken.« »Mein Gott — — eine — — Feile?!«
»Hört Freunde«, sagte Michel laut genug, so daß es alle hören konnten, »wollt Ihr einen Versuch wagen, der Euch die Freiheit wiederbringt, selbst wenn er das Leben kosten sollte?« Überraschtes und zustimmendes Murmeln war die Antwort.
»Gut, so bildet jetzt einen dichteren Haufen, damit ich nicht so laut reden muß. Jemand hat mir eine Feile zugesteckt. Wenn wir mit äußerster Anstrengung arbeiten, so können wir die
Verschlußösen der Ketten an unseren Handgelenken in ein paar Stunden durchgefeilt haben. Die Eisenringe müssen wir natürlich drumbehalten. Hauptsache, die Ketten sind erst einmal weg.«
Eine ungeheure Erregung bemächtigte sich aller. Die Feile wurde herumgereicht. Man nahm sie wie ein Heiligtum in die Hand.»Überlegen wir nicht lange, sondern fangen wir an. Wir müssen noch während der Dunkelheit hier heraus. Sonst ist der ganze Plan mißlungen.«
Das leise Geräusch des Feilens ertönte bereits. Ojo machte den Anfang.
»Und was soll dann weiter geschehen?« fragte der Pfarrer.
»Das laßt meine Sorge sein. Hauptsache, ihr alle tut genau, was ich sage.«
Die zustimmenden Worte wurden immer lauter, so daß Michel Ruhe gebieten mußte.
Nach etwa fünf Minuten stieg ein unterdrückter Freudenschrei aus Ojos Kehle auf.
»Ich bin frei«, jubelte er.
»Weiter, weiter!« drängte Michel. »Du bist nicht der einzige. Wir sind über vierzig.«
Dieses Vorwurfs hätte es nicht bedurft. Ojo feilte bereits seinem Nachbarn die Ösen durch, als gelte es, einen Rekord aufzustellen. Mit seiner ganzen Körperkraft drückte er auf die Feile, die sich in das Eisen fraß, fast so schnell wie eine Laubsäge ins Sperrholz.
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