»Ihr schaut mich so zweifelnd an. Ich weiß, ich mache keinen schönen Eindruck. Aber das ist wohl auch ein wenig zuviel verlangt nach zwei Jahren Gefangenschaft, in denen man nicht ein einzigesmal die Kleider wechseln durfte. Ich wundere mich, daß ich das überhaupt ausgehalten habe.«
»Zwei Jahre hält man Euch schon hier fest? Weshalb? Habt Ihr etwa auch den Grafen beleidigt?«
»Das wäre nicht gut möglich gewesen; denn der bin ich selbst.«
Michel wich einen Schritt zurück. Der Mann war offensichtlich schon wahnsinnig geworden in der langen Zeit seiner Gefangenschaft.
»Habt keine Angst, Senor«, sagte der Fremde ruhig, »ich bin nicht verrückt. Ich bin tatsächlich Graf Esteban de Villaverde y Bielsa. Und« — er deutete auf das Gitterfenster, durch das Michel soeben jene schaurige Szene im Schloßhof beobachtet hatte — »diese Furie von einem Weib, diese Marina ist in Wirklichkeit — — meine Frau. Aber das erzähle ich Euch später, wenn wir mehr Zeit haben«, sagte er beschwichtigend, als er Michels ungläubige Augen auf sich gerichtet sah. »Jetzt wollen wir nur schnell die Stunden festlegen, in denen wir uns ungestört treffen können. Am besten wird es nachts gehen. Nachts bekommen wir kein Essen. Die Wächter kümmern sich nicht um uns; denn sie wähnen uns in den Zellen vollkommen sicher. Damit haben sie, was eine Flucht nach draußen anbetrifft, auch nicht unrecht. Einen Weg hinaus gibt es hier nicht. Aber vielleicht können auf die Dauer wir zwei zusammen einen finden. Allein verzweifelt man so leicht. Wie seid Ihr übrigens in diese Situation gekommen?« Michel berichtete kurz.
Der richtige Graf de Villaverde y Bielsa nickte mit wissenden Augen und sagte: »Das ist typisch für sie. Nun, wir werden ...« Er unterbrach sich plötzlich.
Auf dem Gang hörte man Schritte. Wahrscheinlich brachten sie jetzt den halbtoten Pedro, um ihn ebenfalls in eine Zelle zu werfen.
»Ich muß verschwinden«, flüsterte der Graf. »Erwartet mich heute nacht.« Er stieg in das Loch. Als er verschwunden war, drehte sich der große Steinquader in seine ursprüngliche Lage zurück. Michel legte den kleinen Stein wieder auf seinen Platz. Alles war wie vorher.
Michel war keine Sekunde zu früh fertig geworden. Fast im gleichen Moment, als er aufstand, öffnete sich die Zellentür. Marina trat ein. Ihre Augen glänzten wie im Fieber. »Nun, wie fühlt Ihr Euch, Herr Anarchist?« fragte sie, während ein bösartiges Lachen um ihre Mundwinkel zuckte.
Michel setzte sich mit gelangweiltem Gesichtsausdruck auf den Rand seiner Pritsche und begann, ohne sieauch nur eines Blicks zu würdigen, zu pfeifen. Wütend trat sie nah an ihn heran. »Willst du nicht antworten, wenn dich eine Dame etwas fragt?« Michel sah auf. Spott zuckte um seine Lippen.
»Dame?« fragte er. »Bezeichnest du dich tatsächlich als Dame, Bestie?«
»Aaah!« schrie sie auf und schlug ihm die Faust ins Gesicht. »Warte, ich werde dich zähmen. Du wirst noch staunen, wie gut ich wilde Tiere bändigen kann.«
Michel hielt sie plötzlich gepackt. Und noch ehe ihn die begleitenden Lakaien daran hindern konnten, gab er ihr ein paar schallende Ohrfeigen. Alle fünf Finger seiner rechten Hand zeichneten sich als rot anlaufende Striemen auf ihren zarten Wangen ab. Dann stieß er sie zurück, direkt in die Arme der zuspringenden Leute.
Ihre Augen nahmen einen starren Ausdruck an. Die Lider zogen sich eng zusammen; aber sie sagte kein Wort, sondern verließ die Zelle. — Stunde um Stunde verrann.
Michel erwartete nun jeden Moment die Henkersknechte.
Doch nichts geschah. Der Wächter brachte das Essen zur selben Zeit wie immer.
Fast schien es, als sei sein Benehmen um eine Nuance höflicher als vorher.
»He, hombre«, fragte ihn Michel, »sag mir, was mit dem Schäfer Pedro geworden ist, wie es ihm geht.«
Der Posten verweilte einen Augenblick. Bevor er antwortete, kratzte er sich am Kopf.
»Das arme Schwein ist übel zugerichtet worden. Sie hat ihn ganz schön fertigmachen lassen.« Er schüttelte sich. »Habe nie gewußt, daß es solche Weiber gibt.«
Michel war nicht wenig überrascht über die Offenheit, mit der der Wächter seine Meinung kundtat. Sofort drängte sich ihm der Gedanke auf, den Mann zu einer gemeinsamen Flucht zu überreden. Dann ließ er diesen Gedanken jedoch sogleich wieder fallen. Mittlerweile war es stockfinster in der Zelle geworden. Kein Lichtstrahl drang mehr durch die Scheibe vor der vergitterten Luke.
Michels Erregung wuchs von Minute zu Minute. Warum kam der Graf de Villaverde y Bielsa nicht wieder durch den Gang?
Unruhig ging der Gefangene in seiner Zelle auf und ab. Was für ein Verhängnis hatte den echten Grafen in diese gräßliche Situation gebracht? Wer war diese Frau, die er noch gestern Madonna genannt hatte? War sie wirklich die Frau des gefangenen Esteban?
Michel blieb neben dem Stein auf dem Loch stehen und blickte erwartungsvoll auf die Erde. Die Zeit verrann. Der Leidensgenosse kam nicht. Da entschloß sich Michel, selbst den Weg durch den Gang zu wagen. Gedacht, getan.
Michel kniete neben dem Loch. Sein Arm fuhr langsam und suchend hinein bis zur Achsel. Sorgfältig tasteten seine Hände Zentimeter für Zentimeter der Wandung ab. Da war der Einschnitt. Er drückte seine Finger hinein. Ein Knirschen wurde hörbar, und gleich darauf drehte sich der große Quaderstein halb um seine eigene Achse.
Michel steckte zuerst die Beine in die Finsternis. Am oberen Rand hielt er sich fest, um nicht abzustürzen. Aber er war noch nicht bis zur Hälfte seines Körpers in den Boden gesunken, als seine Füße Wider-stand fanden. Vorsichtig tastete er sich weiter. Er merkte, daß er auf der obersten Stufe einer Treppe stand.
Drei, vier solche Stufen kamen noch. Dann war die Treppe zu Ende. In gebückter Haltung konnte er weitergehen. Den Einstieg in seiner Zelle hatte er durch einfachen Druck gegen das untere Ende des Quadersteins wieder verschlossen.
Mit ausgestreckten Händen, die er wie Fühler gebrauchte, arbeitete er sich Schritt für Schritt voran. Ewig lang erschien ihm der Gang. Die tiefe Dunkelheit erschwerte das Unternehmen beträchtlich.
Da, jetzt stießen seine an den Wänden entlanggleitenden Hände auf einen tiefen Mauereinbruch. Mit Erleichterung stellte er fest, daß er eine Treppe vor sich hatte. Hier mußte der Aufgang in die Zelle des Grafen sein. Bald stieß er mit dem Kopf gegen Steine. Aha, der drehbare Quader! Er stemmte sich kräftig dagegen. Sekunden später stand er in der Zelle.
Von der Pritsche her drang ein schmerzliches Stöhnen an sein Ohr. Was mochte dem Grafen fehlen? War er plötzlich erkrankt?
»Don Esteban«, flüsterte Michel und trat dicht an des anderen Lager. »Was ist mit Euch? Warum seid Ihr nicht gekommen?«
Michel beugte sein Ohr tief hinunter in die Nähe des unzusammenhängende Worte stammelnden Mundes. Wie erstaunte er, als er folgendes vernahm:
»Oh... El Silbador ist gekommen, um mich zu rächen. Oh .. . seid Ihr es wirklich, Don Silbador? — Ihr habt mir ja versprochen, daß Ihr dem Majordomo alles doppelt und dreifach heimzahlen
werdet, wenn mir etwas geschieht. Oh ... oh......mein armer Leib ...oh!«
Da wußte Michel, wen er vor sich hatte. Auf der Pritsche lag Pedro, der Schäfer, und phantasierte. Wahrscheinlich hatte sich bereits das Wundfieber eingestellt. Und Michel, der Arzt, mußte untätig zusehen, wie ein Patient wahrscheinlich in den nächsten Tagen ohne Hilfe und Trost sterben würde. Dabei hätte es nur weniger Medikamente bedurft, um ihn zu retten. Michel zog sich aus der Zelle zurück.
Welch ein Unglück, daß man den Grafen aus seiner Nähe fortgebracht hatte! Kaum hatte er einen Nachbarn gefunden, hatte er ihn auch schon wieder verloren. Das Schicksal machte zuweilen wunderbare Winkelzüge.
Читать дальше