Sie lachte höhnisch auf.
Michel schnellte von seinem Stuhl empor und wollte an die Wand, wo seine Waffen standen. So lief er direkt in die Arme von vier starken Männern, die — der Teufel mochte wissen, woher sie gekommen waren, — plötzlich hinter ihm standen.
Im Nu war er gepackt. Und ehe er sich's versah, war er an Händen und Füßen gefesselt. Jetzt betrat auch der Graf wieder den Raum. »Nun, haben wir das nicht gut gemacht?« fragte er seine Frau.
Marina trat mit blitzenden Augen auf Michel zu, holte aus und schlug ihm mit der flachen Hand auf die Wange. Sie hatte sich völlig gewandelt. Wie eine Katze wirkte sie jetzt. Graf Villaverde y Bielsa stand mit hämischem Grinsen dabei.
Michels Züge waren zuerst steinhart geworden. Doch dann lösten sie sich. Ein Zug der Verachtung für die Frau, die er soeben noch Madonna genannt hatte, prägte sich so deutlich in seinem Gesicht aus, daß Marina einen Moment stutzte.Da sprang die Tür wieder auf, und herein stürzte Don Manuel, der Haushofmeister.
»Ah, habt Ihr ihn, den Kinderschreck Silbador? Vorzüglich!« brüllte er und stürmte auf Michel zu. »Das hast du dir wohl nicht träumen lassen, was?«
»Ich wußte nicht, daß noch so viele Schurken auf der Erde herumlaufen außer dir, du Fettwanst«, sagte Michel. »Aber es wird mir eine Lehre für die Zukunft sein.«
»Ha, ha, ha, Zukunft«, schrie der Majordomo, »hört Ihr, Don Esteban, der Kerl denkt jetzt noch an seine Zukunft, als ob es so etwas überhaupt für ihn gäbe.« Er trat dicht an Michel heran und spie ihm ins Gesicht. Da duckte sich der Mißhandelte plötzlich und machte trotz der gefesselten Füße einen Satz, beugte den Kopf tief hinunter und stieß ihn mit aller Wucht dem triumphierenden Manuel in den Magen.
Aus dessen Mund kam nur noch ein Stöhnen. Dann sackte er zusammen.
»In den Keller mit ihm!« schrie die Gräfin zornig ihre Leute an. »Werft ihn in die dunkelste
Zelle, die wir haben. Dort kann er über seine Freiheit nachdenken.«
Acht Fäuste packten den Silbador und zerrten ihn aus dem Raum.
Michel erwachte frierend. Durch das schmale, vergitterte Fensterchen fiel ein trüber Lichtschimmer. Zähneklappernd erhob sich der Gefangene von seiner harten Pritsche. Durch ein paar Freiübungen brachte er sein Blut zu schnellerer Zirkulation. Nach etwa einer halben Stunde war ihm wärmer geworden.
Trübselig ließ er sich auf seiner Pritsche nieder und starrte zur feuchten Decke des Gewölbes empor. Seine einzige Unterhaltung waren ein paar Ratten und Mäuse, die hin und wieder aus den schmalen Ritzen der Gesteinsquadern in die Zelle lugten.
Später erhob er sich und schritt in seinem Gefängnis auf und ab. Allein der Gedanke, hier nach aller Voraussicht niemals mehr herauszukommen, war unerträglich. Für einen Menschen, der keinerlei Werkzeug besaß, schien es unmöglich, eine der dicken Quadern aus dem Gefüge zu lösen.
In seinen Gedankengang hinein erscholl die Stimme eines Mannes, der draußen im Gang stand und durch die Klappe der Zellentür sah.
»Hier, friß«, sagte der Posten unfreundlich und schob ihm einen halben Laib Brot und eine Kanne Wasser durch die Öffnung.
Michel Baum nahm die Nahrungsmittel an sich und fragte in gleichmütigem Ton: »Wann werdet ihr mich hängen?«
»Hängen?« feixte der Mann. »Du wirst nicht gehängt. Die Gräfin sieht ihre Leute gern alt werden. Vielleicht läßt sie dich nach zwanzig Jahren mal wieder für eine halbe Stunde in die Sonne gucken.«
Bum! Die Klappe war zu, ehe Michel all das begriffen hatte.
Zwanzig Jahre Kerker, das bedeutete praktisch: ein Leben lang; denn was war ein Mensch noch wert, wenn er mit fünfundvierzig Jahren zum erstenmal wieder das Licht der Welt erblickte? War er dann überhaupt noch ein Mensch? War sein Geist, war sein Gehirn nicht bisdahin von der Lichtlosigkeit einer finsteren Zelle verdunkelt?
Michel führte das Brot zum Munde. Schluckweise trank er das eisige Wasser aus dem schmutzigen Krug. Es schmeckte nach Eisen, so stark, daß es kaum zu genießen war. Das Brot war gut. Das Kauen an sich war ein Gefühl, das die meisten Menschen gar nicht recht zu würdigen verstanden.
Und in dieser bewußten Beschäftigung hielt er plötzlich inne. Lauschend neigte er den Kopf. Klang es nicht, als klopfe jemand gegen die Wand? Sicher, es war ein ferner Laut. Vielleicht zerschlug draußen jemand Steine. — Nein, es klang hohl und dumpf. Es war auch nicht ein einfaches, eintöniges Klopfen. Die Schläge erfolgten in einem bestimmten Rhythmus. Das hieß also, daß sich ein Mensch außerhalb dieser Zelle mit ihm verständigen wollte. Michel legte das Brot beiseite und sprang auf. Den Kopf horchend vorgestreckt, tastete er mit seinem Ohr die Wände ab. Ja, hier klang es am stärksten. Der Klopfer mußte sich nebenan in einer anderen Zelle befinden.
Jetzt rissen die Zeichen für eine Weile ab. Dann setzten sie erneut wieder ein. Wenn Michel nur gewußt hätte, was sie bedeuten sollten.
Schließlich sah er sich in seiner Zelle um. Dort in der Ecke lag ein loser Stein auf dem Boden. Michel ergriff ihn und bearbeitete nun seinerseits die Wand. Drüben blieb es still. Der andere horchte anscheinend auf Michels Klopfzeichen, die allerdings keinerlei Sinn hatten.
So ging es eine ganze Weile hin und her.
Nach zwei Stunden hörte der andere vollkommen auf. Er hatte wahrscheinlich eingesehen, daß er sich mit dem neuen Leidensgefährten auf diese Art und Weise nicht verständigen konnte. Schwitzend und erschöpft ließ sich Michel auf seiner Pritsche nieder und dachte verzweifelt nach. Wenn er nur den Schlüssel zu den Zeichen hätte! Nun, er hatte ihn nicht. Und das besagte: trotz Gesellschaft Einsamkeit.
Michel warf den Stein, den er solange achtlos in der Hand gehalten hatte, in die Ecke. Da setzten von drüben die Zeichen wieder ein.
Wenn auch nichts dabei herauskommt, dachte er, auf alle Fälle müssen wir die Verbindung aufrecht erhalten. Er bückte sich und suchte nach einem anderen Stein; denn der vorherige schien ihm zu unhandlich, zu groß. Aber soviel er auch suchte, er fand keinen. Da nahm er den ersten wieder zur Hand und antwortete dem unbekannten Nachbarn, ließ aber bald ermüdet ab.
Der Arm, der so angestrengt gearbeitet hatte, hing ihm kraftlos herunter. Er konnte einfach nicht mehr. Schon wollte er den Stein wegwerfen, als er plötzlich auf den Umstand aufmerksam wurde, daß dies der einzige Stein in der Zelle war. Wie leicht konnte er dem Wächter bei einer Inspektion auffallen. Man legte ihn am besten wieder auf den gleichen Platz, wo man ihn vorgefunden hatte. Dort lag er wahrscheinlich schon seit Jahren.
Michel ging in die Ecke, um seinen Vorsatz auszuführen. Als er in der Ecke auf den Boden blickte, stieß er einen Laut der Überraschung aus. Der Stein hatte als Deckel zu einem Loch gedient, das, etwa doppelt so stark wie ein Arm, in den Boden hineinführte. Welche Bedeutung mochte dieses Loch haben?Neugierig kniete er nieder und versuchte, mit den Augen die in dem Loch herrschende Dunkelheit zu durchdringen. Es war jedoch zu finster darin, um irgend etwas zu erkennen. Vorsichtig tastete Michel mit der Hand hinunter. Er konnte keinen Grund erreichen. Es schien aber auch sonst nichts Bemerkenswertes in diesem Loch zu geben. Er stand nach einer Weile auf und paßte den Stein in das Loch ein. Dann setzte er sich nieder und dachte angestrengt nach.
Wozu war dieses Loch da? Hatte es irgendeinen Zweck? War es bekannt oder hatte es ein anderer Gefangener gegraben? Irgendein Vorgänger? Und war nicht unter Umständen sogar derjenige sein Vorgänger, der jetzt in der anderen Zelle neben ihm saß und versucht hatte, ihn durch die Klopfzeichen auf diesen Stein aufmerksam zu machen?
Die Gedanken taumelten durch Michels Kopf, und er konnte keine Ordnung in sie hineinbringen. Plötzlich sprang er auf und suchte fieberhaft den Zellenboden ab. Vielleicht fand er wenigstens ein kleines Steinchen, einen Kiesel nur, den er dort hineinwerfen konnte, um zu ergründen, wie tief das Loch ungefähr sein mochte.
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