»Erzähle!«, sagte er.
»Wir brachen aus allen vier Toren zugleich hervor, wie schon des Öfteren in einer Nacht. Aber diesmal waren die Feinde auf der Hut. Ein furchtbares Getümmel begann. Niemand von uns wusste, wo Herr Gorlois gerade kämpfte, denn er war bald da und bald dort. Plötzlich rief jemand: ›Der Herzog ist tot!‹ Und gleich darauf kam der Ruf von allen Seiten. Schrecken und Verwirrung ergriffen uns. Das nützten die Feinde und es gelang ihnen, uns zu überrennen. Im Handumdrehen waren sie durch die Tore gestürmt, viele von den Unsrigen wurden erschlagen. Ich weiß nicht, wer in Terrabil noch lebt. Uns glückte es, in der Dunkelheit zu entkommen und hierher zu eilen, um die Botschaft zu überbringen.« Merlin hatte fieberhaft überlegt, während der Ritter redete. Nun war jeder Augenblick kostbar, denn die Gefahr war sehr groß geworden.
»Bleibt hier und wartet, bis ich zurückkomme!«, sagte er schnell. »Ich will es euch ersparen, der Herzogin die Unglücksbotschaft zu bringen. Ich werde es ihr selbst sagen.«
Er war schon draußen und lief eilig den Gang hinab. –
Herr Uther fuhr auf, als er das dringende Pochen an der Tür der Kemenate hörte, denn Merlin hatte ihm gesagt: »Wenn ich an die Tür klopfe, dann komm sofort, denn es bedeutet höchste Gefahr.«
Er sprang auf. »Frau Igerne, ich muss fort! Irgendetwas ist geschehen. Ich bitte dich, verlass deine Gemächer nicht, denn gewiss ist dies keine Sache für Frauen, sonst würde niemand wagen, mich zu stören.«
Im nächsten Augenblick fiel die Tür hinter ihm zu.
Die Herzogin blieb sehr nachdenklich zurück. Eine steile Falte stand auf ihrer glatten Stirn. Irgendetwas war merkwürdig, dachte sie und eine sonderbare Unruhe wollte sie nicht verlassen.
Draußen auf dem Gang packte Merlin hastig Uthers Arm. »Hör zu! Herzog Gorlois ist tot. Und deine Krieger haben die Burg Terrabil erobert. Zwei Ritter des Herzogs sind mit der Botschaft gekommen. Du musst mit ihnen reden, als wärest du Gorlois. Befiehl ihnen, sogleich nach Terrabil zurückzukehren und dort auf dich zu warten, sage ihnen, du würdest kommen, um mit dem König, der ja gewiss dort sein würde, über Frieden zu verhandeln, ehe er auch noch Tintagol einnähme! Komm jetzt und – bei deinem Leben! – rede klug!«
Die beiden verwundeten Ritter starrten Uther an wie ein Gespenst, als er neben Merlin die Turmkammer betrat.
»Herzog – Herzog Gorlois!«, stotterte der eine und riss die Augen auf, als könne er ihnen nicht trauen. »Wir glaubten – wir alle hielten dich für tot.«
Der andere, der übler dran war, drückte nur die Hände an die Stirn und ächzte: »Ich muss wahnsinnig sein …«
Uther versuchte zu lachen; aber es gelang ihm nur schlecht.
»Nun, ihr seht, ich lebe und bin bei guter Gesundheit. Und ich will euch genau erklären, was geschehen ist. Während ihr euch auf Terrabil für den Ausritt gerüstet habt, bin ich heimlich und allein aus der Burg fortgegangen und durch den geheimen Gang hierhergekommen, um Hilfe zu holen. Denn die Übermacht der Belagerer war zu groß. Unsere Lage ist jetzt freilich schlimm genug. Darum will ich mit dem König über Frieden verhandeln, ehe er auch noch Tintagol einnimmt.«
Uther redete wirklich so klug, dass ihm Merlin beifällig zunickte; und die beiden Ritter kamen nicht einen Augenblick auf den Gedanken, dass es nicht Gorlois war, der mit ihnen sprach.
Man vereinbarte, sich an einem bestimmten Platz im dichten Gebüsch an der Burgmauer von Terrabil zu treffen, und sie machten sich wieder auf den Rückweg.
Aber sie warteten danach vergebens auf den Herzog. Und als sie später erfuhren, dass Herr Gorlois wirklich tot war, zerbrachen sie sich vergeblich die Köpfe, was für ein Spuk sie in Tintagol genarrt hatte.
Derweil liefen Uther und Merlin zurück zum Erker, durch den zu ihrem Schrecken schon graues Morgenlicht hereinfiel. Sie rüttelten den verdrießlichen Herrn Ulfin wach, rannten zurück zur Turmkammer und sprangen durch die Falltür hinab, gerade als oben im Gang die Schritte eines früh aufgestandenen Knechtes vom Gewölbe widerhallten.
»Wartet!«, flüsterte Merlin, während er lautlos die Tür über sich zuzog. »Ich muss uns erst wieder zurückverwandeln, sonst werden uns deine eigenen Krieger erschlagen, König Uther, da sie dich für Gorlois halten. Und du, Herr Ulfin, willst du etwa dein zukünftiges Leben lang als Bastian herumlaufen?«
»Gott soll mich bewahren!«, zischte Ulfin wütend. »Ich möchte überhaupt wissen, wozu du den ganzen Mummenschanz mit mir veranstaltet hast!«
»Vielleicht, damit du später einmal bezeugen kannst, dass Herzog Gorlois schon tot war, als König Uther Igernes Kemenate betrat«, antwortete Merlin und Ulfin verstand wieder einmal nicht, was die merkwürdige Rede bedeuten sollte.
Viele Jahre später aber an einem denkwürdigen Tag erinnerte er sich wieder daran.
Indessen hatten Merlins Hände wieder ihr seltsames Spiel begonnen. Kreuz und quer und im Kreis fuhren die langen, schmalen Finger über die Gesichter der Männer, als hätten sie ihr eigenes Leben. Ulfin hätte ihn gerne fortgestoßen, aber er hatte Angst, dann für immer der hässliche Ritter Bastian bleiben zu müssen.
Später stolperten sie den steilen Gang hinab.
Als sie bei den Klippen ins Freie traten, war es heller Tag.
Vom Lager herüber tönten laute Rufe, Männer liefen zwischen den Zelten hin und her, Reiter jagten die Straße entlang.
»Sie suchen mich«, sagte der König. »Gewiss haben sie längst entdeckt, dass ich die ganze Nacht nicht im Lager war.« Er lächelte, dachte an Frau Igerne und wusste, dass er sie sehr liebte.
Und dass Herzog Gorlois nun tot war …
Im Lager empfing man sie mit lautem Jubel. Aber Uther wehrte alle Fragen ab. »Sattelt meinen Hengst!«, befahl er.
Gleich darauf ritt er auf dem schmalen Felsenpfad zur Burg hinüber. Auf den Mauern standen die Wächter und am Fenster des Torturmes sah er Jordanus. Er hielt so nahe vor dem Tor, dass der Ritter oben ihn hören konnte.
»Gottes Gruß, Herr Jordanus!«, rief er. »Ich bin gekommen, um dir Frieden anzubieten. Du weißt, dass Herzog Gorlois, der Lehnsherr, tot ist und dass meine Krieger Terrabil erobert haben. Wollt ihr Tintagol halten, bis ihr darin verhungert?«
Er wartete. Herr Jordanus antwortete nicht gleich. Er sah bedrückt und ratlos aus.
»Du denkst an den geheimen Gang?«, fuhr Uther fort. »Aber du wirst auf diesem Weg keinen Fisch und kein Säcklein Mehl in die Burg schaffen können! Denn ich werde den Eingang von meinen Kriegern bewachen lassen.«
Der Burghauptmann zuckte die Achseln. »Das macht mich um eine Hoffnung ärmer«, gab er zu. »Aber ich kann nicht über die Burg verfügen. Burg Tintagol gehört der Herzogin. Herr Gorlois hat sie ihr zur Hochzeit geschenkt.«
Uther stieß einen leisen Freudenruf aus. »So rede ich mit deiner Herzogin! Ich werde mir morgen um die gleiche Zeit ihre Antwort holen!«
Als er am nächsten Morgen zur Burg hinüberritt, sah er schon von Weitem, dass nicht Jordanus am Fenster des Turmes stand, sondern Igerne. Sein Herz begann zu pochen wie ein Hammer. Oh, sie war so blass und ihr schönes Gesicht so traurig.
Er hielt den Hengst an und verneigte sich tief. Da begann sie zu reden. »König Uther, mein Gemahl ist tot und ich bin nun allein und ohne Schutz. Wohl weiß ich, dass meine Ritter für mich kämpfen würden, aber ich will nicht, dass meinetwegen Männer sterben. Darum habe ich befohlen, dir Tintagol kampflos zu übergeben. Denke daran, dass du den Eid der Ritter geschworen hast: gegen den Besiegten Gnade walten zu lassen und die Schwachen zu beschirmen.«
Herr Uther wäre am liebsten vom Pferd gesprungen und zum Turm hinaufgerannt, als er sie so reden hörte.
Aber er war König von Britannien!
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