Ich sage nichts und Opa redet weiter: „Ich habe mit dreizehn keine Mutter mehr gehabt, die war tot. Ich bin mit sechzehn zu Hause rausgeflogen. Ich habe mit neunzehn deine Oma geheiratet und mit zwanzig bin ich Vater geworden. Mit fünfundzwanzig hatte ich meine eigene Firma und bin dann noch einmal Vater geworden.“
So was in der Art hat mir Oma schon mal erzählt. Ich überlege, was ich jetzt sagen könnte, aber Opa ist schneller.
„Zu mir war nie jemand nett, Charlie, erst, als ich es mir leisten konnte, zu anderen nett zu sein. Als ich eine Existenz hatte, waren die Leute plötzlich alle freundlich. Oma und ich haben sehr harte Zeiten erlebt. Aber wir haben gekämpft. Und das wünsche ich dir. Dein Leben ist nicht so, wie du es dir wünschst. Stimmt. Aber du bist stark, Charlie! Und du kannst kämpfen. Steh auf und mach was aus deinem Leben. Du hast Möglichkeiten. Lern Mathe und lass dir sonst helfen. Frag mich oder Papa oder geh zur Nachhilfe. Wenn dir das Mensa-Essen nicht schmeckt, dann schmier dir morgens ein Brot. Lebe mit deiner Mutter und mit deinem Vater, eben versetzt. Und wenn jemand nett zu dir ist, dann freu dich einfach drüber! Und wenn du mit nach Italien willst, dann sag uns bis nächste Woche Bescheid.“
Opa startet den Wagen neu. Ich bin sprachlos. Wie kann Opa so etwas sagen? Hat er vielleicht recht? Ich schließe die Augen und merke, wie sich meine Gedanken verlangsamen, und dann ist es plötzlich sehr still …
Ich muss eingeschlafen sein. Als ich aufwache, sind wir bei Oma und Opa angekommen. Opa sitzt nicht mehr am Steuer. Meine Tür ist einen Spalt breit offen. Das macht Opa immer. Als ich klein war, hat er gesagt, er möchte mich sofort hören, wenn ich wach werde. Jetzt bin ich groß, aber er lässt die Tür immer noch ein wenig offen. Müde klettere ich aus dem Auto. Auch die Haustür ist angelehnt.
Gerade, als ich in den Flur komme, höre ich aus der Küche Opas Stimme. „… und das Kind ist total erschöpft. Sie ist einfach eingeschlafen. Ich weiß nicht, was die beiden am Wochenende wieder mit ihr angestellt haben. Aber montags ist es immer am schlimmsten. Ich habe mit Charlie geredet. Ich habe ihr gesagt, dass sie aufhören soll, sich zu bemitleiden, und einfach mal kämpfen muss!“
„Oh nein, Paul, das kannst du nicht machen!“, fällt ihm Oma ins Wort. „Lotti ist so zerbrechlich. Sie leidet doch so sehr an dieser Situation. Wir müssen sie beschützen. Für Stefan ist das auch nicht leicht mit der Trennung. Aber das Kind kann nichts dafür. Und Tanja scheint mir vollkommen überfordert zu sein. Lotti hat doch nur uns. Hier ist alles wie immer.“
„Du tust dem Kind keinen Gefallen, wenn du alles schönredest“, kontert Opa. „Du weckst Hoffnungen, die du nicht erfüllen kannst. Es wird nicht wieder alles gut.“ Opas Stimme wird lauter. „Charlie muss ihren Weg finden, je eher, desto besser!“
„Hör mal, Lotti ist noch ein Kind, und die Zeiten haben sich geändert. Muss Lotti denn das Gleiche ertragen wie wir? Immer auf sich gestellt sein; keiner, der hilft und Mut macht. Paul, ich will das nicht alles noch einmal erleben, wie bei dir damals. Ich werde alles für sie tun, damit sie nicht leiden muss.“ Oma hört sich irgendwie traurig an.
Stuhlbeine rutschen über den Boden, Opa ist offenbar aufgestanden.
Langsam betrete ich die Küche. „Stör ich?“
Oma nimmt mich gleich in den Arm. „Oh, Lotti, es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Das solltest du doch gar nicht hören. War auch nicht so wichtig. Opa sagt, du bist so müde. Willst du ein bisschen schlafen? Ich bringe dir gleich einen Kakao, der Kuchen braucht noch ein wenig.“
Ich bleibe noch einen Moment in Omas Armen und mache mich dann auf den Weg zur Treppe.
Opa murrt: „Nicht so wichtig! Was soll denn das heißen?“
Oma zischt: „Psst! Paul, bitte jetzt nicht. Nicht, wenn das Kind dabei ist!“
Aber ich höre sie doch. Ich höre sie immer – alle. Wenn sie heimlich hinter meinem Rücken die Wahrheit sagen und mir dann irgendeine nette Lüge auftischen. Ehrlich, das kotzt mich an! Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Ich habe auch bei Oma und Opa ein Zimmer, das Kinderzimmer von Papa. Hier ist alles wie immer. Aber obwohl ich so müde bin, kann ich jetzt nicht schlafen. Ich muss an das neue Baby denken. Noch ist es ja unsichtbar. Aber das wird nicht so bleiben. Was wird sich dann alles ändern? Dann wird sich noch jemand in diese chaotische Familie drängeln. Ich werde nicht mehr Mamas einziges Kind sein, das ist das Schlimmste. Teilen tut weh. Gummibärchen teilen ist okay, aber Eltern teilen, das geht gar nicht!
Oma klopft leise an die Tür.
„Komm rein, Omi. Ich bin wach“, rufe ich und strecke mich kräftig.
Oma lächelt. „Was ist denn nur los mit dir, Lottilein. Hast du so wenig geschlafen am Wochenende – oder bist du krank?“
„Versprichst du mir, nicht zu jammern und nicht Lottilein zu sagen? Dann verrate ich’s dir.“ Ich setze mich auf.
„Bin ich so schlimm?“ Oma tut ein wenig beleidigt.
Ich lächele und gebe ihr einen Kuss. „Nein, gar nicht. Ich möchte nur nicht, dass du mich bedauerst oder dich vielleicht sogar einmischst. Ich könnte jetzt einfach nur jemanden brauchen, der zuhört! Okay?“
Oma nickt. „Ich höre!“
„Also, ich war am Wochenende bei Papa. Die Jungs waren zu laut, Yvy zu nett und Papa zu verliebt in seine neue Familie. – Omi, nur zuhören, ja? – Papa hat vorgeschlagen nach Zeeland zu fahren, so wie früher. Ich habe mich total gefreut, hatte aber gedacht, nur Papa und ich fahren. Aber er will, dass wir alle Fünf Urlaub machen! Und das finde ich einfach ätzend. Zeeland ist unser Ding, das gehört nicht zu Ivy und den Jungs.“ Ich atme laut aus und rede weiter: „Okay, das war alles doof, aber das Allerschlimmste kam dann gestern Abend, als Mama mich abgeholt hat. Mama ist …!“ Meine Stimme stockt.
Ich versuche es noch einmal: „Mama hat gesagt, sie …“ Aber es geht einfach nicht. Die Worte bleiben mir im Hals stecken.
Oma versucht zu helfen. „Ist Mama sauer?“
Ich schüttele den Kopf.
Zweiter Versuch von Oma: „Ist sie arbeitslos?“
Ich schüttele wieder den Kopf.
„Von Daniel getrennt?“
Ich schüttele noch mal den Kopf.
„Ist sie krank?“
Meine Unterlippe bebt, als ich noch mal verneine.
„Dann weiß ich es nicht“, sagt Omi.
Jetzt würge ich es heraus: „Baby!“
Omas Hände beginnen zu zittern. Die Tasse fällt ins Bett und sie nimmt mich fest in den Arm. Die Tränen fließen einfach aus mir heraus, und es fühlt sich an, als ob ich in dem Strom ertrinke.
Debbie
„Debbie, du musst nicht die Welt retten! Die dreht sich auch weiter, wenn du einfach erst mal ankommst.“
Ich bin auf dem Weg nach Hause und sortiere die Eindrücke des Tages … Die Lehrer scheinen recht okay zu sein. In den meisten Fächern komme ich gut mit. Nur in Englisch sind sie in der neuen Klasse weiter. Ich werde gleich morgen die Lehrerin fragen, ob ich die fehlenden Unterlagen bekommen kann.
Die meisten Schüler haben mich kaum wahrgenommen. Das ist doof. Ich habe zwar nicht erwartet, dass ich direkt mit offenen Armen empfangen werde, aber so gar nichts – das tut weh. Schmerzlich sehne ich mich nach meiner alten Klasse zurück. Was hätte ich heute alles mit meinen Mädels bequatscht. Meine geliebte große Pause an den alten Bäumen mit meinen Freundinnen und guten Gesprächen, das fehlt mir so sehr. Okay, Sophia hat sich in einer Pause mit mir unterhalten. Vielleicht ist das ja ein Anfang …
Aber die meisten Gedanken mache ich mir jetzt über Charlotte. Ich bin mir ganz sicher, dass sie jemanden zum Reden braucht! Ich würde gerne dieser Jemand sein. Ich finde, sie ist sehr hübsch mit ihren wilden Locken. Aber warum hat sie mich so grob behandelt? Warum hat sie zuerst meine Hilfe in Mathe angenommen und mich danach beschimpft?
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