I.Überblick und Normstruktur
357Nach Art. 2 Abs. 1 hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Die Norm kann, obschon schutzbereichsbezogen knapp formuliert, als „Grund-“ oder „Basisnorm“ der nachfolgenden bereichsspezifischen Aspekte der Persönlichkeitsentfaltung verstanden werden. 1Das BVerfG führt dazu aus
„Die allgemeine Handlungsfreiheit ist umfassender Ausdruck der persönlichen Freiheitssphäre und zugleich Ausgangspunkt aller subjektiven Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“. 2
Wie aus der knappen Textfassung („Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“) nicht ohne weiteres ersichtlich ist, enthält Art. 2 Abs. 1 zwei unterschiedliche Grundrechte 3: Die nachfolgend dargestellte allgemeine Handlungsfreiheit und das in § 11 behandelte allgemeine Persönlichkeitsrecht.
Der in einem einzigen Satz zusammengefasste Art. 2 Abs. 1 beinhaltet außerdem die sog. Schrankentrias (Rechte anderer, Sittengesetz, verfassungsmäßige Ordnung).
II.Schutzbereich
1.Persönlicher Schutzbereich
358Das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist als Menschenrecht ausgestaltet; auf seinen Schutz kann sich daher jede natürliche Person berufen, nicht aber Verstorbene, weil diese sich nicht (mehr) entfalten können. 4Eine potentielle Entfaltungsmöglichkeit kommt zwar dem Nasciturus zu, sein grundrechtlicher Schutz wird aber in erster Linie über das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1) 5und den Würdeschutz des Art. 1 Abs. 1 bewirkt. 6
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG kommt die allgemeine Handlungsfreiheit auch inländischen juristischen Personen zugute. 7Gleiches gilt für teilrechtsfähige Personenvereinigungen des Privatrechts (vgl. Art. 19 Abs. 3). So können sich Handelsgesellschaften auf die allgemeine Handlungsfreiheit berufen, auch wenn sie keine juristischen Personen im Sinne des Zivilrechts sind. 8
Die Anwendung auf juristische Personen des öffentlichen Rechts ist nicht von vornherein ausgeschlossen, scheidet aber aus, wenn der Aufgabenbereich „Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener und geregelter öffentlicher Aufgaben“ in Rede steht. 9
359Soweit einzelne Grundrechte ausdrücklich Deutschen vorbehalten sind, genießen Ausländer und Staatenlose Grundrechtsschutz über das subsidiäre allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1. 10
Dies betrifft insbesondere die thematischen Bereiche der Berufsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und des Freizügigkeitsrechts. 11Denn mit der Beschränkung einzelner Grundrechte auf Deutsche geht keine explizite Versagung subsidiären Freiheitsschutzes für Ausländer in dem entsprechenden Lebensbereich einher. Andernfalls könnte dem Grundanliegen des Art. 2 Abs. 1, unter der Herrschaft des Grundgesetzes lückenlosen Grundrechtsschutz zu gewährleisten 12, keine Rechnung getragen werden. 13
Nach Auffassung des BVerfG darf der Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 allerdings nicht dazu führen, dass Nichtdeutsche im Bereich der Deutschenrechte den selben Schutzumfang, den das Spezialgrundrecht gewährt, über das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit einfordern könnten. 14 Auf den Grundrechtsschutz von Ausländern finden daher die Schranken des Art. 2 Abs. 1 Anwendung , zu denen vor allem die verfassungsmäßige Ordnung zählt. 15Besondere Grundsätze gelten für den Grundrechtsschutz von Unionsbürgern . Hier besteht im Ergebnis Einigkeit darüber, dass Unionsbürgern im Bereich der Deutschengrundrechte der gleiche Grundrechtsschutz wie Deutschen zusteht. 16
2.Sachlicher Schutzbereich
a) Allgemeine Verhaltensfreiheit.
Fall 2: 17Wegen Verunreinigungen an Gebäuden und hygienischen Bedenken erlässt die Stadt S eine Satzung, in der bestimmt wird, dass in Teilen der Innenstadt das Füttern von Tauben verboten ist. Dadurch sollen die Tiere einen Anreiz verlieren, sich in der Innenstadt anzusammeln. Rentner R, der gerne Tauben füttert, ist empört und hält es für undenkbar, dass das Grundgesetz ein solches Verbot zulasse. Ist der sachliche Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet?
360Art. 2 Abs. 1 spricht von der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Diese Formulierung lässt nicht ohne weiteres erahnen, dass der Schutzinhalt dieses Grundrechts heute in die „banale“ Formulierung gekleidet wird, „jeder kann tun und lassen was er will“. Man kann Art. 2 Abs. 1 damit i. S. einer allgemeinen Verhaltensfreiheit interpretieren. Dieses weite Verständnis des Schutzbereichs lag der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 aber nicht von Anfang an zugrunde. Vielmehr wurde anfänglich unter dem Einfluss der sog. „Persönlichkeitskerntheorie“ Art. 2 Abs. 1 so interpretiert, dass der Schutzbereich der Vorschrift auf einen Kernbereich der Persönlichkeit beschränkt war; darauf, was das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmache.
361Ein grundlegender Wandel vollzog sich spätestens mit der berühmten Elfes-Entscheidung 18des BVerfG.
Elfes , ein rheinischer CDU-Politiker und innerparteilicher Gegenspieler von Konrad Adenauer , wurde die Verlängerung seines Reisepasses unter Hinweis auf eine Vorschrift des Passgesetzes, nach der ein Pass zu versagen sei, wenn der Antragsteller die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik gefährde, verweigert. Elfes wollte sich damit nicht zufriedengeben und klagte erfolglos vor den Fachgerichten. Seine gegen deren Entscheidungen gerichtete und im Wesentlichen auf Art. 11 gestützte Verfassungsbeschwerde hatte ebenfalls keinen Erfolg.
Das BVerfG verneinte zunächst die Eröffnung des Schutzbereichs der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1). Die Vorschrift schütze (Wortlautargument: Freizügigkeit im Bundesgebiet) nur die Einreise-, nicht aber die Ausreisefreiheit.
Gleichzeitig entschied das BVerfG die zuvor 19noch offen gelassene Frage, wie der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 zu konturieren sei. Es wies die Persönlichkeitskerntheorie u. a. mit einem auf die Schranken des Grundrechts bezogenen Argument zurück:
„Das Grundgesetz kann mit der ‚freien Entfaltung der Persönlichkeit‘ nicht nur die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit gemeint haben, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht, denn es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können.“ 20
Seitdem und bis heute wird Art. 2 Abs. 1 so verstanden, dass von seinem Schutzbereich die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne erfasst wird. 21Ihr Schutzgegenstand ist kein bestimmter, begrenzter Lebensbereich, sondern jegliches menschliche Verhalten“ . 22
362Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 ist damit sehr weit, er darf aber nicht gänzlich konturenlos sein. Die erforderliche Konkretisierungsarbeit kann auf die Erkenntnis Bezug nehmen, dass bestimmte, abgegrenzte Teilbereiche der allgemeinen Handlungsfreiheit normative Verdichtungen aufweisen (etwa die Privatautonomie oder die Vertragsfreiheit), die sie von den genannten banalen Verhaltensfreiheiten (Taubenfüttern, Reiten im Walde) abheben. Es handelt sich um noch nicht dem Gewährleistungsgehalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuzurechnende Segmente des durch Art. 2 Abs. 1 gewährten Schutzes, die aber gegenüber der bloßen Gewährleistung allgemeiner Handlungsfreiheit Verdichtungen aufweisen. 23
Angesprochen sind damit neben den schon genannten Bereichen der Privatautonomie (d. h. der „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“ 24) und der Vertragsfreiheit 25(d. h. dem Recht, Verträge im Rahmen der zivilrechtlichen Ordnung frei zu schließen und aufzulösen 26, sie inhaltlich zu gestalten oder zu kündigen 27) auch die Ausreisefreiheit 28oder der Schutz vor kompetenzwidrigen oder sonst rechtswidrigen Abgaben . 29Das BVerfG aktiviert Art. 2 Abs. 1 auch gegenüber der Pflichtmitgliedschaft in Kammern bzw. der damit verbundenen Beitragslast. 30. Werden Aufgaben wahrgenommen, die außerhalb der Kompetenz einer Kammer liegen, kann aus Art. 2 Abs. 1 ein Austrittsanspruch entstehen. 31Die skizzierten unbenannten Freiheitsrechte fallen – überwiegend wohl aufgrund rechtlicher Verfestigungen in anderen Teilen der Rechtsordnung – nach allen Auffassungen in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1. Ihre gewisse Privilegierung gegenüber sonstigen Ausprägungen menschlicher Handlungsfreiheit zeigt sich zuvörderst in einer strikteren Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit erhöhter Rechtfertigungslast seitens des Staates bei Eingriffen. 32
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