344 Kontaktsperren dürfen nur unter den engen Voraussetzungen der §§ 31 ff. EGGVG angeordnet werden. 114
Besonderen Schutz verdient die Kommunikation des Gefangenen mit seinem Ehepartner und anderen nahen Angehörigen. 115
Der freie briefliche Kontakt von Ehegatten unterfällt demnach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Achtung der Intimsphäre, sodass der die Briefe der Untersuchungsgefangene kontrollierende Richter, diesem Verfassungsgebot besondere Bedeutung beimessen muss. 116
345 bb) Schutz der personalen Identität.Die Wahrung der personalen Identität und Integrität betrifft einen „ Prozess möglichst autonomer Selbstdarstellung“ 117 .
So hatte das BVerfG schon im Jahre 1978 entschieden, dass „die Eintragung des männlichen Geschlechts eines Transsexuellen im Geburtenbuch jedenfalls dann zu berichtigen [ist], wenn es sich nach den medizinischen Erkenntnissen um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus handelt und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist.“ 118Nach heutigem Erkenntnisstand stellen Varianten der Geschlechtsentwicklung (sog. Disorders of Sex Development, DSD) wie Trans- oder Intersexualität weder in medizinischer noch (verfassungs-)normativer Perspektive eine Krankheiten dar. 119Zu Recht hat das BVerfG 2017 den Schutz der geschlechtlichen Identität dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet und auch auf Personen erstreckt, deren geschlechtliche Identität weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuzuordnen ist. 120
346Fragen der personalen Identität können zugleich den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1) berühren. 121
Dies gilt z. B. für die Gendiagnostik (Gentests, Genomanalyse), die die Ermittlung sensibler personenbezogener Daten ermöglicht. 122
Biowissenschaftliche Bereiche wie die Fortpflanzungsmedizin, Reproduktionsgenetik und Gentherapie werden ebenfalls unter dem Aspekt der personalen Identität und Integrität erörtert, betreffen jedoch auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2). 123
347 cc) Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit.Die Menschenwürde ist in dem Sinne egalitär als sie ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung gründet. 124Sie ist damit unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht; der so bewirkte Achtungsanspruch des Einzelnen als Person ist die Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der rechtlich verfassten Gemeinschaft immanent. 125Schutz und Achtung der Menschenwürde verbieten infolgedessen auch jede Form der Sklaverei oder Leibeigenschaft (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 EMRK). 126Dieses Verbot gewinnt im Rahmen des Frauen- und Kinderhandels zunehmend an Bedeutung. 127Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit folgt aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3. 128
348 (Unmittelbare) Diskriminierungen können nicht nur den Gleichheitssatz verletzen, sondern auch gegen die Menschenwürde verstoßen. Dies gilt insbesondere für Diskriminierungen, die auf objektiver oder subjektiver Willkür in der Rechtsanwendung beruhen 129oder rassistisch motiviert sind. 130
349 dd) Sicherung des Existenzminimums als materielle Lebensgrundlage.Aus dem Schutz der Menschenwürde i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip folgt schließlich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. 131Dies gilt insbesondere für die Gewährung der notwendigen Daseinshilfe bei Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Alter, Krankheit oder Behinderung. 132Rechtsprechung und Literatur begrenzen diesen Anspruch auf diejenigen, die die für ihre materiellen Lebensgrundlagen notwendigen Mittel weder aus eigener Erwerbstätigkeit oder eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erlangen können, die also gleichsam unverschuldet nicht in der Lage sind, selbst für ihre materielle Lebensgrundlage zu sorgen. 133Der Anspruch ist nicht darauf begrenzt, das „nackte Überleben“ sicherzustellen. Das BVerfG hat den zunächst vom BVerwG 134entwickelten und dann in der fachgerichtlichen Rechtsprechung weiter ausdifferenzierten Anspruch 135zuletzt ebenfalls auf das sog. soziokulturelle Existenzminimum bezogen und ausgeführt:
„Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. 136
Bei der Wahrnehmung des Verfassungsauftrags zur Sozialgesetzgebung räumt das BVerfG dem Gesetzgeber Gestaltungsspielraum ein 137, verpflichtet ihn aber zugleich, zur Konkretisierung des Anspruchs die existenznotwendigen Aufwendungen „folgerichtig“ und in einem „transparenten und sachgerechten Verfahren“ zu ermitteln. 138
„[Der Sozialstaatsgrundsatz] enthält zwar einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber. Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit lässt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft. […] Soweit es nicht um die genannten Mindestvoraussetzungen geht, steht es in der Entscheidung des Gesetzgebers, in welchem Umfang soziale Hilfe unter Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger Staatsaufgaben gewährt werden kann und soll. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsraum zu.“
350Das BVerfG zählt zu den Mindestvoraussetzungen, die der Staat für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen hat (Art. 1 i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip), auch die Steuerfreiheit des Existenzminimums . 139
351Wie die Bestimmung des Schutzbereichs bereitet auch die Qualifizierung einer Maßnahme als Eingriff in die Menschenwürde Schwierigkeiten. Das BVerfG hatte wohl wegen der Unabwägbarkeit der Menschenwürde Eingriffe zunächst mit drastischen Begriffen umschrieben. 140Heute wird zur Bestimmung eines Eingriffes meist auf die von Günter Dürig begründete Objektformel zurückgegriffen. Danach darf der Einzelnen weder zum bloßen Objekt staatlicher Willkür gemacht noch darf ihm seine Subjektsqualität genommen werden. 141Die Objektformel beinhaltet – vor allem, wenn sie verkürzt wiedergegeben und angewandt wird – Missverständnispotential.
In Klausuren und Hausarbeiten muss man sich davor hüten, die Objektformel vorschnell so zu verstehen als dürfe der Einzelne oder sein Verhalten niemals zum Gegenstand staatlichen Handelns gemacht werden.
Denn im Rechtsstaat ist der Einzelne sehr häufig Normen und Regelungen unterworfen, etwa Straßenverkehrsregelungen oder steuerrechtlichen Bestimmungen.
Das BVerfG hat die Objektformel bisweilen um einen subjektiven Aspekt angereicht, wonach die in Rede stehende Maßnahme Ausdruck von Verächtlichmachung sein müsse. 142Als Eingriff in die Menschenwürde sind jedenfalls die Maßnahmen zu qualifizieren, die die Subjektqualität des Menschen und den daraus folgenden Achtungsanspruch grundsätzlich in Frage stellen 143, seinen Wert an sich verneinen. 144
Beispiele:Sklaverei, Leibeigenschaft, Frauen- und Kinderhandel; Folter und andere Formen der massiven Verletzung der physischen oder psychischen Integrität; Herstellung von Embryonen zum alleinigen Zweck ihrer Nutzung als „Rohstoff“.
352Eingriffe in die Menschenwürde können „klassisch“ bewirkt werden, sich aber auch (erst) unter Anwendung des weiten Eingriffsbegriffs ergeben. Klassische Eingriffe, also imperative, rechtsförmliche, finale und unmittelbare Beeinträchtigungen des Schutzguts der Menschenwürde stellen nicht nur Maßnahmen der Exekutive (etwa Durchführung der Folter) oder Legislative (etwa ein Gesetz, das Sklavenhandel erlaubte) dar, sie können sich auch aus Urteilen ergeben (etwa wenn ein Schadensersatzanspruch trotz menschenwürdiger Unterbringung in einer Haftanstalt verneint wird). 145Ob sich gleichsam umgekehrt auch aus der Zuerkennung eines Schadenersatzanspruches eine Verletzung der Menschenwürde ergebenen kann, ist in der Rechtsprechung des BVerfG angesichts divergierender Entscheidungen der beiden Senate zum Fragenkreis „Kind als Schaden“ 146noch ungeklärt. Der BGH hat es jüngst im Ergebnis offengelassen, ob es Art. 1 Abs. 1 ausschließe, Schadensersatz für wirtschaftliche Belastungen zuzusprechen, die mit dem eigenen Dasein verbunden sind; jedenfalls bestehe im konkreten Fall der Schutzzweck etwa verletzter Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen nicht darin, den Patienten vor wirtschaftlichen Belastungen, die mit seinem – wenn auch leidensbehafteten – Weiterleben verbunden waren, zu schützen. 147
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