316Die h. M. qualifiziert die Menschenwürdegarantie zutreffend als Grundrecht . 16
Die Gegenauffassung verweist auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 3, wonach „die nachfolgenden Grundrechte“ Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Aus dem Wort „nachfolgend“ sei zu schließen, dass Art. 1 Abs. 1 kein Grundrecht enthalte.
Das BVerfG hat die Frage teils explizit, teils implizit beantwortet und auf Art. 1 Abs. 1 gestützte Verfassungsbeschwerden zugelassen, das Gericht geht damit offensichtlich auch von einem subjektiv-rechtlichen Charakter der Menschenwürde aus. 17Für den Grundrechtscharakter der Menschenwürde sprechen zudem Entstehungsgeschichte und Systematik des Art. 1 : 18So steht Art. 1 innerhalb des ersten Abschnitts des Grundgesetzes, dessen amtlicher Titel „Die Grundrechte“ lautet. Auch wurde die Menschenwürde bewusst an den Beginn der Verfassung gesetzt, um die verfassungsnormative Grundaussage zu verdeutlichen, dass der Staat um des Menschen willen besteht und nicht umgekehrt. Sie bildet den Ausgangspunkt der Verfassungsordnung des Grundgesetzes 19, dessen strukturgebende Fundamentalnorm 20, sie ist – wie es im parlamentarischen Rat plastisch formuliert wurde – „der eigentliche Schlüssel für das Ganze“. 21Aus dieser Perspektive erscheint es in der Tat systemwidrig, ausgerechnet der Grundnorm einer „immanent-anspruchsfreundlichen“ 22Verfassung keine subjektiv-rechtliche Funktion beizumessen. Vielmehr müssen sich objektive und subjektive Funktion von Art. 1 Abs. 1 gegenseitig verstärken. 23
317Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 zu den anderen Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes bedarf differenzierter Betrachtung, die sich mit dem Grundsatz der partiellen Spezialität und Subsidiarität umschreiben lässt. 24Sofern Einzelgrundrechte einschlägig sind, ist vorrangig auf diese abzustellen, was wegen der mit der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verbundenen Rationalisierungsfunktion von Vorteil ist. Demgegenüber führt eine an sich gutgemeinte, aber vorschnelle Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 wegen dessen Abwägungsresistenz nicht selten in ein wenig hilfreiches „alles oder nichts“. 25Da die Menschenwürdegarantie durch die nachfolgenden Grundrechte konkretisiert wird, sind im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung die Einzelgrundrechte also vorrangig zu prüfen . 26Dies führt dazu, dass ein zusätzlicher Rückgriff auf Art. 1 in aller Regel entfällt. 27Allerdings kann bei „besonderer Schwere“ zusätzlich zur Verletzung des sachlich einschlägigen Grundrechts zugleich auch eine Verletzung der Menschenwürde gegeben sein; schließlich kann Art. 1 Abs. 1 auch verletzt sein, obschon kein Verstoß gegen ein spezielles Freiheitsrecht vorliegt. 28
Klausurhinweis:Auch in juristischen Klausuren und Hausarbeiten ist zunächst zu prüfen, ob die speziellen Grundrechte verletzt sind, ehe auf die Menschenwürdegarantie als „ last refuge “ 29zurückgegriffen werden darf.
II.Schutzbereich
1.Der persönliche Schutzbereich
318Die Menschenwürde besitzt zunächst jeder lebende Mensch „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status“. 30Sie steht ausnahmslos allen natürlichen Personen zu, selbstverständlich auch Minderjährigen, körperlich oder geistig beeinträchtigten Menschen, Bewusstlosen, Straftätern, Ausländern und Staatenlosen. 31
Das BVerfG hat zutreffend festgestellt:
„Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ 32
319Das BVerfG spricht ferner auch dem ungeborenen Leben den Schutz aus Art. 1 Abs. 1 zu. 33Das ist zutreffend und konsequent, eben weil das Menschsein einzige Bedingung des Würdeschutzes ist und sich das ungeborene Leben als Mensch, nicht zum Menschen entwickelt. 34Das Gericht hat allerdings offen gelassen, ob der Nasciturus selbst Grundrechtsträger 35oder aufgrund mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit „nur“ Begünstigter einer objektiven staatlichen Schutzpflicht 36ist. Es liegt in der Konsequenz des die Grundrechte beherrschenden subjektiven Verständnisses, den Nasciturus als Grundrechtsträger anzusehen. Von der Grundannahme her, dass, wo Leben ist, auch der Würdeschutz greift, sind auch die neuerdings aufgeworfenen Fragen nach der Bedeutung der Menschenwürde im Bereich der Biowissenschaften zu beantworten. Weil Leben im verfassungsrechtlichen Sinne mit der Vorkernverschmelzung beginnt 37, sind Maßnahmen wie etwa die Präimplantationsdiagnostik, die Behandlung überzähliger Embryonen aus künstlichen Befruchtungen oder etwa die sog. „verbrauchende Embryonenforschung“ auch an Art. 1 Abs. 1 zu messen. Für den Schutz der Menschenwürde kommt es auch nicht auf die Art und Weise der Entstehung des Lebens – ob auf natürlichem oder artifiziellem Weg – an. Das gilt auch im Falle des Klonens. Tragend hierfür ist – wie im Schrifttum zu Recht herausgestellt wird – die normative Äquivalenz von totipotenten 38menschlichen Zellen, die einmal auf dem Befruchtungswege, das andere Mal als Resultat eines Zellkerntransfers entstanden sind. 39Auch wenn der „Ursprungsakt“ verschieden ist, ist doch das Ergebnis insofern gleich als in beiden Fällen die Entwicklung bzw. das Entwicklungspotential zu einem „vollständigen“ Menschen vorliegt. 40Deshalb kommt auch Embryonen, die im Wege des reproduktiven oder therapeutischen Klonens erzeugt würden, Menschenwürde zu. 41
320Schließlich hat das BVerfG einen allgemeinen Achtungsanspruch des Verstorbenen aus Art. 1 Abs. 1 hergeleitet ( postmortaler Persönlichkeitsschutz ). 42Denn es wäre
„mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar […], wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in Art. 1 Abs. 1 aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode.“ 43
Die Intensität des Schutzes wird allerdings durch Zeitablauf geringer:
„Die Dauer des postmortalen Persönlichkeitsschutzes lässt sich nicht generell festlegen. Sie hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. […] Das Schutzbedürfnis schwindet in dem Maße, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblasst und im Laufe der Zeit auch das Interesse an der Nichtverfälschung des Lebensbildes abnimmt.“ 44
321Aktuelle Referenzgebiete, in denen das postmortale Persönlichkeitsrecht Bedeutung erlangt, findet sich im Bereich der Transplantationsmedizin oder etwa im Bestattungsrecht, namentlich bei Obduktionen und bestimmten Bestattungsarten. 45Das (verfassungsrechtliche) postmortale Persönlichkeitsrecht knüpft daran an, dass die der staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode endet. 46Postmortalen Schutz genießen dabei der allgemeine Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht, aber auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat. 47Das postmortale Persönlichkeitsrecht schützt den Grundrechtsträger (nur) davor, in einer die Menschenwürde verletzenden Weise ausgegrenzt, verächtlich gemacht, verspottet oder in anderer Weise herabgewürdigt zu werden. 48Das so konturierte postmortale Persönlichkeitsrecht wird durch eine Organentnahme auf Basis des Hirntodkonzepts bei Vorliegen einer Zustimmung durch den reinen Entnahmeakt nicht berührt. Anders kann es liegen, wenn die Organentnahme im Kontext der Widerspruchslösung aufgrund einer fiktiven Zustimmung, aber gegen den (geäußerten) Willen des Betroffenen erfolgt, etwa wenn der Betroffene mit der Entnahme nicht einverstanden war und sein Widerspruch aus dem Staat zurechenbaren Gründen – beispielsweise bei kollusivem Zusammenwirken – keine Beachtung gefunden hat.
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