1 ...7 8 9 11 12 13 ...45 Heimtückischtötet, wer die Arg- und daher Wehrlosigkeit des Opfers in feindseliger Willensrichtung ausnutzt 73.
43 (1) Arglosist dabei, wer sich zum Zeitpunkt der mit Tötungsvorsatz vorgenommenen Tathandlung keines Angriffs versieht 74. Das Opfer kann erstens überhaupt nur arglos sein, wenn es die Fähigkeit zum Argwohnbesitzt. Auch ein Schlafender sollnach h. M. arglos sein können, da dieser seine Arglosigkeit „mit in den Schlaf nimmt“, indem er sich bewusst dem Schlaf im Vertrauen darauf hingibt, dass ihm nichts geschehen werde 75. Die Arglosigkeit fehlt hingegen bei Besinnungslosen, weil diese dem Angriff nicht entgegentreten können 76. Ferner wird diese auch bei sehr kleinen Kindernverneint, sofern deren Wahrnehmungsfähigkeit noch nicht ausgebildet ist und diese deshalb nicht fähig sind, anderen Vertrauen entgegen zu bringen 77. Das bloße Überlisten natürlicher Abwehrinstinkte von Kleinstkindern genügt dabei nicht 78.
Bsp.: 79T süßt den Brei des Kleinkindes K, damit dieses das tödliche Gift nicht bemerkt. – T macht sich nach § 212, nicht aber § 211 strafbar, da K noch nicht zum Argwohn fähig war.
44Ggf. kann bei Kleinstkindern und Bewusstlosen auf die Arglosigkeit schutzbereiter Dritter(z. B. Eltern, Aufsichtspersonal oder Ärzte) abgestellt werden 80. Schutzbereit ist dabei derjenige, der den Schutz vor Leibes- und Lebensgefahren dauernd oder vorübergehend übernommen hat und ihn im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies unterlässt, weil er dem Täter vertraut 81. Voraussetzung ist, dass der Dritte den Schutz wirksam erbringen kann, wofür eine gewisse räumliche Nähe 82und eine überschaubare Anzahl anvertrauter Personen erforderlich sind 83.
Bsp.: 84Vater T tötet seinen einjährigen Sohn O im Schlaf; im Nebenzimmer ist der 7 Jahre alte Bruder anwesend. – Heimtücke ist zu verneinen, wenn der ältere Bruder keine Schutzfunktion übernommen hat; O selbst fehlt die Fähigkeit zum Argwohn.
45Der Täter muss den schutzbereiten Dritten aber nicht gezielt ausschalten, vielmehr genügt es, wenn der Täter die von ihm erkannte Arglosigkeit des Dritten bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. Bedeutung hat dies vor allem bei der Tötung bewusstloser Patienten erlangt.
Bsp.: 85Krankenschwester T spritzt in Anwesenheit von nahen Angehörigen oder Ärzten eigenmächtig ein Mittel, um den bewusstlosen und schwerkranken Patienten O, der zuvor nicht in die Tötung eingewilligt hat, zu töten; zudem schaltet sie an den Geräten eine Vorrichtung ab, die bei einer Verschlechterung des Zustandes Alarm auslöst. – T macht sich nach §§ 212, 211 strafbar, da sie heimtückisch handelte. O selbst war zwar zum Argwohn nicht fähig, jedoch nutzte T die Arg- und daher Wehrlosigkeit der schutzbereiten Dritten aus. Hätten die Anwesenden den Angriff bemerkt, wären sie eingeschritten; dies unterblieb aber, weil sie T als behandelnder Krankenschwester vertrauten und auch der Alarm unterdrückt war. Zu prüfen bleibt, ob T auch in feindseliger Willensrichtung handelte; das kann in engen Grenzen zu verneinen sein, wenn sie dem Patienten individuell weiteres Leid ersparen möchte 86.
46Besitzt das Opfer die Fähigkeit zum Argwohn, so muss es zum Zeitpunkt der Tathandlung grundsätzlich auch tatsächlich arglossein. Ein bloß generelles Misstrauen oder eine latente Angst vor Angriffen steht der Annahme der Arglosigkeit nicht entgegen 87. Selbst eine auf früheren Streitigkeiten und einer feindseligen Beziehung beruhende Angst des Opfers beseitigt dessen Arglosigkeit nicht. Es kommt vielmehr allein darauf an, ob das Opfer im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnet. Arglos kann das Opfer auch bei einem offenen, aber überraschenden Angriffsein, wenn die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen 88. Das Opfer muss also keineswegs „hinterrücks“ angegriffen werden. Die Arglosigkeit kann im Einzelfall selbst dann vorliegen, wenn der Tat zwar ein Angriff des Täters vorausgegangen ist, dieser aber bereits wieder beendet war 89. Entscheidend ist demnach, ob das Opfer im konkreten Fall mit einem Angriff auf sein Leben oder seine körperliche Integritättatsächlich gerechnet hat 90. Ein der Tötungshandlung unmittelbar vorausgegangener, allein verbal geführter Angriff oder eine feindselige Atmosphäre schließen die Heimtücke nicht aus 91.
47Für die Beurteilung der Arglosigkeit ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Tathandlungabzustellen 92. Eine Ausnahme wird jedoch für Fälle zugelassen, in denen der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz in einen Hinterhalt lockt oder ihm eine Falle stellt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob das Opfer arglos ist, soll hier nicht der Beginn der Tötungshandlung, sondern bereits das im Vorbereitungsstadium liegende hinterhältige Vorgehen sein. Selbst wenn das (wehrlose) Opfer bei Eintritt des Täters in das Versuchsstadium inzwischen argwöhnisch ist, soll Heimtücke zu bejahen sein 93. Begründet wird diese Ansicht damit, dass das Heimtückische in den Maßnahmen liegt, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, soweit diese bei der Ausführung der Tat noch fortwirken. Für die Annahme von Heimtücke lässt sich ferner anführen, dass dem Opfer durch die raffinierte Vorgehensweise des Täters bei der Vorbereitung bereits in diesem Stadium die Verteidigungsmöglichkeiten genommen werden.
48 (2) Gerade aufgrund der Arglosigkeitmuss das Opfer wehrlossein, d. h. es muss nur deshalb nicht zur Verteidigung im Stande sein. Beruht die Wehrlosigkeit auf anderen Gründen, etwa der körperlichen Unterlegenheit des Opfers, so scheidet Heimtücke aus.
Bsp.: 94O lässt sich von T beim Liebesspiel fesseln. T beschließt erst dann, diese Situation auszunutzen und die O zu töten. – Die Wehrlosigkeit der O beruht nicht auf deren Arglosigkeit, sondern auf der vorangegangenen Fesselung, bei der T noch keinen Tatentschluss besaß.
49 (3)Der Täter muss ferner die Arg- und Wehrlosigkeit in tückisch verschlagener Weise zur Tötung bewusst ausnutzen 95. Hierfür genügt es, dass der Täter sich bewusst ist, einen durch seine Sorglosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen 96. Dies kann vor allem zu verneinen sein, wenn der Täter spontan in hoher Erregung handelt oder ein psychischer Ausnahmezustand vorliegt 97.
50 (4)Problematisch ist der Tatbestand des Mordes deshalb, weil er sich nach der gesetzgeberischen Konzeption durch eine starre Kombination von abschließender Kasuistik der Mordmerkmale mit zwingend vorgesehener lebenslanger Freiheitsstrafe auszeichnet. Im Hinblick auf das verfassungsrechtlich verankerte Schuldprinzip(Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG) ist diese Ausgestaltung bedenklich. Denn zweifelsfrei wäre sie nur, wenn die lebenslange Freiheitsstrafe stets bei Vorliegen eines vom Gesetz genannten Mordmerkmals verhältnismäßig wäre. Dies ist aber keineswegs so. Denn auch bei Verwirklichung eines Mordmerkmals kann der Fall im Unrechts- und Schuldgehalt so gelagert sein, dass die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre. Gegenüber den §§ 212, 213 mit einer Strafrahmenspannweite von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe liegt zudem ein erheblicher „Sanktionensprung“ vor 98.
(a)Das Merkmal in feindseliger Willensrichtungschränkt daher das Merkmal der Heimtücke ein und soll Fälle vom Mord ausnehmen, in denen der Täter „zum Besten“ des Opfers handelt und die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht schuldangemessen wäre.
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