320 aa)Unter Verwerflichkeit ist im Wege einer Gesamtabwägungein erhöhter Grad sozialethischer Missbilligung zu verstehen, der ein gesteigertes Unwerturteil voraussetzt 640. Über die Verwerflichkeit der Tat entscheidet dabei die sog. Mittel-Zweck-Relation,d. h. das Verhältnis zwischen eingesetztem Mittel und angestrebten Zweck 641. Über den Nötigungserfolg i. e. S. („Nahziel“) hinaus verfolgte Zwecke („Fernziele“)sind dabei aber nach h. M. nicht im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung, sondern erst bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, da § 240 Abs. 2 nur auf das abgenötigte Verhalten Bezug nimmt 642.
321 bb)Die Verwerflichkeit ist bereits zu bejahen, wenn sowohl das Mittel als auch der Zweck jeweils für sich genommen als verwerflich einzustufen sind.
Bsp.:T zwingt den O durch Bedrohung mit einer Pistole zur Begehung einer Straftat. – Hier ist sowohl das eingesetzte Nötigungsmittel (Drohung mit Waffeneinsatz) als auch der erstrebte Zweck (Begehung einer Straftat) als negativ zu qualifizieren.
322 cc)Ebenso kann aber auch bereits die Verwerflichkeit des Mittels oder des Zwecks für sich genommen zur Verwerflichkeit führen. Als Grundregelgilt, dass die Verwerflichkeit der Tat desto eher anzunehmen ist, je intensiver und gravierender das Nötigungsmittel ist und je negativer der Nötigungszweck zu beurteilen ist.
Bsp.:T droht den O zu erschießen (verwerfliches Mittel), falls dieser nicht endlich seine Schulden bezahle (rechtlich gebilligter Zweck). – T macht sich nach § 240 strafbar, weil das Mittel per se verwerflich ist und die Grenzen erlaubter Selbsthilfe überschritten sind 643; T hätte ggf. den Rechtsweg beschreiten müssen. Entsprechendes gilt in Fällen, in denen der Vermieter nach ordnungsgemäßer Kündigung den in der Wohnung verbleibenden Mieter mit Gewalt oder Drohung zum Auszug bewegt.
323Aufgrund der Gefährlichkeit des Nötigungsmittelsist die Verwerflichkeit bei Verhaltensweisen im Straßenverkehr zu bejahen, wenn zur Erzwingung des Überholvorgangs – abhängig von der Geschwindigkeit – auf ein anderes Fahrzeug aufgefahren wird 644oder der Hintermann scharf ausgebremst wird. Zu einer konkreten Gefährdung des anderen muss es hierbei nicht kommen 645. Die Verwerflichkeit wird jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn zugleich die Straftatbestände der §§ 315b, 315c erfüllt sind. Andererseits begründet nicht jede vorsätzliche Verkehrsordnungswidrigkeit per se die Verwerflichkeit 646. Aus dem missbilligenswerten Zweckkann sich die Verwerflichkeit insbesondere dann ergeben, wenn ein anderer Verkehrsteilnehmer aus verkehrserzieherischen Gründen und insofern schikanös ausgebremst wird 647.
324 dd)Umgekehrt ist die Verwerflichkeit grundsätzlich zu verneinen, wenn Mittel und Zweck positiv zu bewerten sind. Allerdings kann sich die Verwerflichkeit in diesen Fällen auch aus einem Missverhältnis von Mittel und Zweck ergeben, wenn deren Verknüpfung mangels inneren Zusammenhangs als verwerflich einzustufen ist (Inkonnexität) 648.
Bspe.:T kündigt an, Strafanzeige gegen O wegen einer Trunkenheitsfahrt zu stellen (rechtlich gebilligtes Mittel), wenn O ihm nicht endlich den Kaufpreis für den veräußerten DVD-Player zahle (rechtlich gebilligter Zweck). – Die Verwerflichkeit folgt hier erst aus der Verknüpfung von Mittel und Zweck, weil zwischen beiden keinerlei Zusammenhang besteht. Keine Inkonnexität wäre hingegen anzunehmen, wenn T nach einem Diebstahl eine Strafanzeige ankündigt, falls O nicht dem Herausgabeanspruch hinsichtlich der Diebesbeute nachkomme.
325 ee)Speziell für die vieldiskutierten Blockadefällesind folgende Kriterien in die Gesamtabwägung einzustellen 649: Sachbezug der Blockierer zum Protestgegenstand und ihre Nahziele; Umstände der Blockade wie vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, Zahl der Demonstranten, Dringlichkeit der behinderten Tätigkeiten sowie Dauer und Intensität der Blockaden. Fernziele– wie Abrüstung, Friedenssicherung, Umweltschutz usw. – sollen nach wohl h. M. nicht berücksichtigt werden und lediglich Eingang in die Strafzumessung finden 650. Dafür spricht, dass das strafrechtliche Urteil von politischen Zielen und persönlicher Einschätzung frei gehalten werden kann 651. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass sich zuverlässige Grenzen kaum ziehen lassen und die Wertungen lediglich in die Strafzumessung verschoben werden. Auch das BVerfG postuliert eine umfassende Abwägung unter Berücksichtigung des Gewichts des jeweiligen Anliegens und der Ernsthaftigkeit der Motive des Blockierers 652. Lediglich der Zugang zur Wertung, ob das verfolgte Ziel wertvoll oder zu missbilligen ist (etwa Bewertung der Kernkraft als positiv oder negativ), soll demnach verschlossen sein.
326Im Rahmen der Schuld kann vor allem das Unrechtsbewusstsein zu diskutieren sein, wenn Irrtümer vorliegen, die die Verwerflichkeitsklauselbetreffen. Die Behandlung solcher Irrtümer hängt zunächst davon ab, ob man die Verwerflichkeitsklausel als Element des Tatbestandes oder der Rechtswidrigkeit ansieht 653. Irrt sich der Täter über Tatsachen, auf denen die rechtliche Wertung der Verwerflichkeit beruht (Bewertungsgrundlagen), so liegt je nach dogmatischer Einordnung der Verwerflichkeitsklausel ein Tatbestands- oder ein Erlaubnistatbestandsirrtum (h. M.) vor 654. Betrifft der Irrtum – in Kenntnis der Tatsachenlage – lediglich das Werturteil selbst und geht der Täter irrig davon aus, die Tat sei nicht als verwerflich zu qualifizieren, so ist ein Verbotsirrtum gem. § 17 anzunehmen.
327Ist die Nötigung in anderen Tatbeständen enthalten (z. B. §§ 249, 253), so tritt § 240 im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück. Tateinheit kommt lediglich dann in Betracht, wenn der Täter zusätzliche Zwecke verfolgt 655. Hinsichtlich des Verhältnisses zu § 239 wird auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen 656.
Einführende Aufsätze:
Geppert , Die Nötigung (§ 240), Jura 2006, 31; Sinn , Die Nötigung, JuS 2009, 577; Zopfs , Drohen mit einem Unterlassen?, JA 1998, 813.
Übungsfälle:
Hillenkamp , Ein besonderes Silvesterfeuerwerk, JuS 1997, 821 (Drohen mit einem Unterlassen); Krahl , Streit um einen Parkplatz, JuS 2003, 1187 (Versperren eines Parkplatz mit einem Einkaufswagen); Schulz , Bewährung mit Folgen, JA 1998, 127 (Nötigung durch Androhen von Schlägen zur Erreichung einer Einstellung der Verfolgung).
Rechtsprechung:
BVerfGE 92, 1– Sitzdemonstrationen (Verfassungswidrigkeit des erweiterten Gewaltbegriffs); BVerfGE 104, 92 –Anketten von Demonstranten (Grenzen des Gewaltbegriffs); BGHSt 31, 195– Kaufhausdetektiv (Drohung mit einem empfindlichen Übel); BGHSt 37, 350– Wackersdorf (Nötigungserfolg bei einer Sitzblockade); BGHSt 41, 182– Sitzdemonstration (Gewalt durch Straßenblockade); BGHSt 44, 34– Castor (Anbringen von Stahlkörpern auf Schienen als Nötigung).
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